EWR 2 (2003), Nr. 2 (März/April 2003)

Christian Niemeyer
Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik
Eine Einführung
Weinheim und München: Juventa Verlag 2002
(304 Seiten; ISBN 3-7799-1087-X; 24,00 EUR)
Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik Die Wirkung, die Friedrich Nietzsche zunächst und vornehmlich auf das Selbstbewusstsein, die Lebensauffassung und den Stil der jugendlichen Intelligenz, dann aber auch auf die theoretische Pädagogik im 20. Jahrhundert ausgeübt hat, ist kaum zu überschätzen. Die Problematik dieser Wirkung beginnt mit der Frage, inwieweit es überhaupt Nietzsches Gedanken waren und nicht vielmehr der von seiner Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche ohne Fälschungsskrupel lancierte Nietzsche-Kult, dem diese Wirkung zuzuschreiben ist.

Christian Niemeyer, der bereits mit einer Reihe von Studien zur Wirkungsgeschichte Nietzsches hervorgetreten ist, unternimmt mit dem vorliegenden Band den Versuch, das Gewirr der auf Nietzsche bezogenen, pädagogisch relevanten (deutschen) Literatur, bis zur sogenannten Postmoderne zu durchdringen. Er lässt sich dabei davon leiten, "dass die Zeiten, in denen man Nietzsche wörtlich nehmen konnte, endgültig abgelaufen sind" (8). Beabsichtigt ist – im Anschluß an ein Postulat Ulrich Herrmanns - eine kritische Historiographie, die die "Möglichkeiten von Wertungen" begrenzt und die "Grundlagen von Urteilen" erweitert. Dazu gehört es, die Analyse der inhaltlichen Aussagen von Texten mit der Frage zu verbinden, wie es zu ihnen kommen konnte.

Den zwei rezeptions-analytischen Hauptteilen – "Nietzsche, die Jugend und die Jugendbewegung" und "Nietzsche und die Pädagogik" – sind zwei kürzere Teile vorangestellt, in denen es darum geht, Klarheit über den Kern von Nietzsches Philosophie und deren Bildungsintention zu gewinnen. Der erste Teil ist eine psychologisch empathische Leben- und Werk-Skizze. Als den Hauptgedanken erkennt Niemeyer den der "ewigen Wiederkehr", gedeutet als Frage nach der Möglichkeit der Selbstbejahung unter der Bedingung, sich nicht mehr vor einem "wachsamen Gott" verantworten zu müssen. (Die "Tod-Gottes"-Formel wird als "Klage" über ein unwiderrufliches geschichtliches Aufklärungsereignis gedeutet.) Im zweiten Teil, "Nietzsche als Erzieher", wird als das erziehungs- und bildungstheoretische Komplement dieses Gedankens das Projekt des "vornehmen Menschen" – im Gegensatz zum Menschen des Ressentiments – herausgestellt. In dieser Neufassung des Subjektgedankens und nicht in Nietzsches angeblicher Tilgung des "Subjekts" sieht Niemeyer den entscheidenden Punkt (74 ff.). Den Grundzug des neuen Subjektkonzepts erblickt er nicht in der aristokratischen Attitüde, sondern - mit einer Bemerkung Nietzsches – in der Fähigkeit, "zu einem ´Außerhalb´, zu einem ´Anders´, zu einem ,Nicht-selbst´" ja zu sagen. Daraus ergibt sich, daß die Denkrichtung des späten Nietzsche für faschistische Vereinnahmungen keine Griffstelle bietet. Sie sperrt sich auch gegen Züchtungsunterstellungen im Sinne Sloterdijks. Umso wichtiger wird eine Historiographie falscher Berufungen auf Nietzsche.

Der erste der beiden umfangreichen wirkungsgeschichtlichen Teile untersucht und korrigiert die verbreitete These, Nietzsche sei der entscheidende Prophet der Jugendbewegung gewesen. Dies, so die Gegenthese, waren vielmehr Langbehn und vor allem Lagarde (vgl. 109). Ein eigener Abschnitt ist dabei der Widerlegung der Auffassung von Nietzsche als dem Philosophen der Kriegsbegeisterung gewidmet. Es waren Förster-Nietzsches wirksame Nietzsche-Fälschungen, die Nietzsche zum "Kriegphilosophen", obendrein noch zu einem kaisertreuen stilisierten.

In vier Kapiteln geht der letzte Teil der pädagogischen Nietzsche-Rezeption nach. Für die Reformpädagogik wird die Maßgeblichkeit des frühen Nietzsche herausgestellt. Die theoretische Pädagogik der Weimarer Zeit, obwohl ein wenig distanzierter als die reformpädagogischen Enthusiasten, war insgesamt nicht fähig, der nationalistischen Vereinnahmung Nietzsches entgegenzuarbeiten und den dezidiert europäischen und "anti-antisemitischen" Zug seines Werkes herauszustellen. Dies ist eines der Resultate der außerordentlich dichten und differenzierten Recherchen des entsprechenden Kapitels. Die Reformpädagogik spielte insofern der "nationalsozialistischen Nietzscheinstrumentalisierung" (183) in die Hände. "Erst zum Kriegsende hin gewann der Wiederkunftsgedanke neue Aufmerksamkeit, weil man hoffte, Nietzsche nun auch zur Adelung jener Apokalypse heranziehen zu können, [die] der Nationalsozialismus verursacht hatte." (203) Auch noch in der Nachkriegszeit prominente pädagogische Theoretiker waren an der Verstellung des Werkes zum nationalsozialistischen "Zitatenschatz" beteiligt.

Der "Nazifizierung" folgt in der Nachkriegszeit zunächst eine ebenso fragwürdige Entnazifizierung Nietzsches. Niemeyer unterscheidet hier drei Rezeptionsphasen nach 1945: die der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die der "zaghaften Wiederannäherung" und die der postmodernen Neubewertung.

In einer Schlussfolgerung (262 - 268) stellt Niemeyer den Erkenntnisgewinn aus seinen aufschlussreichen Recherchen zur Nietzsche-Rezeption, die das selbstgesetzte Ziel erfüllen, ein Stück Pädagogik-Geschichte zu bieten, in den Kontext des gegenwärtigen Theorienpluralismus in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft. Aus seiner Legenden entlarvenden Nietzsche-Studie ergibt sich, wie er meint, die generelle "Forderung, sich fernzuhalten von dem allzumenschlichen Bestreben, schulenwidriges Personal, damit verknüpfte Lesarten oder gar ganze Teildisziplinen auszugrenzen" (268). Für die wissenschaftstheoretische Eigenpositionierung enthalte der Fall Nietzsche die Lehre, "die Wahrheitsannäherung durch sukzessive Ausschaltung unwahrscheinlicher Lesarten oder nicht hinreichend kontextualisierter Erklärungen voranzutreiben" (ebd.).

Die systematische Wendung des Schlussabschnitts scheint mir argumentativ nicht ganz durchgearbeitet zu sein, wenngleich sie als Postulat für historisch-pädagogische Forschung und für die Eigenpositionierung beherzigenswert ist. Theorie der Pädagogik hat es schließlich nicht nur mit Vordenkern bzw. mit "Lesarten" von deren Werken zu tun. Gelegentlich bereitet der psychologisierende Duktus in dem trotz der zahlreichen Zitate und der Anspielungen auf die - gewissermaßen von der Seite und oft polemisch abgrenzend eingeführte - Sekundärliteratur gut zu lesenden Text mir einige Probleme. Was wird z.B. schon erklärt oder geklärt durch eine "Sehnsucht nach ... vorenthaltene(r) Über-Mütterlichkeit" (64)?

Dessen unbeschadet halte ich Niemeyers Nietzsche-Studie für ein ebenso gelehrtes wie belehrendes, materialreiches und wichtiges Kapitel der Historiographie der deutschen Pädagogik im 20. Jahrhundert.
Jörg Ruhloff (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg Ruhloff: Rezension von: Niemeyer, Christian: Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik, Eine Einführung, Weinheim und München: Juventa Verlag 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 2 (Veröffentlicht am 01.04.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991087.html