EWR 6 (2007), Nr. 6 (November/Dezember 2007)

Ulrich Herrmann (Hrsg.)
"Mit uns zieht die neue Zeit..."
Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung
Weinheim: Juventa 2006
(405 S.; ISBN 3-7788-1133-7; 35,00 EUR)
"Mit uns zieht die neue Zeit..." Der Wandervogel bleibt mehr als hundert Jahre nach seiner GrĂŒndung 1901 im Gymnasium Steglitz ein faszinierendes, aber ebenso irritierendes PhĂ€nomen. Dies zeigt auch der vorliegende Sammelband, der von dem renommierten Erziehungswissenschaftler und Bildungshistoriker Ulrich Herrmann herausgegeben wurde. Die BeitrĂ€ge gehen auf ein Symposium im November 2001 in Steglitz, von wo einst die Gymnasiasten zusammen mit inspirierten Erwachsenen den neuen Jugendkult begrĂŒndeten, zurĂŒck.

Der Herausgeber betont, anlĂ€sslich eines JubilĂ€ums sei weder die NĂ€he zu völkischem Gedankengut noch die romantisierende Betrachtung von Volk und Heimat der bĂŒrgerlichen Jugendbewegung in den Mittelpunkt zu stellen. Stattdessen behandeln die BeitrĂ€ge im Wesentlichen den historischen Kontext, den neuen Lebensstil sowie den wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang von Utopie und Gesellschaft. Dem Herausgeber und den Autorinnen und Autoren geht es um eine WĂŒrdigung jenes international betrachtet eher singulĂ€ren Falls. In diesem Sinne ist es konsequent, dass sich der Beitrag Herrmanns, der den Band eröffnet, mit dem vermutlich umstrittensten ReprĂ€sentanten und Historiographen der Jugendbewegung befasst, nĂ€mlich mit Hans BlĂŒher.

BlĂŒher hatte durch seine Interpretation der „Geschichte einer Jugendbewegung“ von 1912/13 mit ihrer starken Betonung von Freundschaft, Bindung und Eros unter mĂ€nnlichen Jugendlichen und Erwachsenen Aufruhr erzeugt. Durch die ausfĂŒhrlich abgedruckten Zitate ermöglicht es nun Ulrich Herrmann, einen Eindruck von der IntensitĂ€t und Entschiedenheit der BlĂŒherschen Argumentation fĂŒr die ExklusivitĂ€t jenes Wandervogelerlebnisses zu vermitteln. Um seinem Anliegen, den Wandervogel zu verstehen, gerecht zu werden, konzentriert Herrmann sich auf die Frage nach der Bedeutung des erotischen PhĂ€nomens, das BlĂŒher stark gemacht hatte, auf Form und Gehalt der Erlebnisse sowie auf die darin zum Ausdruck kommende GefĂŒhlsrichtung. Mit Hilfe der Ritualtheorie von Victor Turner rekonstruiert er die ParallelitĂ€t von zwei Ordnungen und erschließt den Wandervogel als liminale Anti-Struktur gegenĂŒber der normativen Struktur. Diese Deutung habe nicht zuletzt den Vorzug, „daß zum einen die Zeremonien und kulturellen Praktiken des Wandervogels davor bewahrt werden, als Folklore banalisiert zu werden, und daß zum anderen durch BlĂŒhers ‚Sexualtheorie des Wandervogels‘ eine jugendpsychologische ErklĂ€rung der emotionalen AttraktivitĂ€t dieser FreundesbĂŒnde geliefert wird, die die Differenz zum Wander- oder Sport- ‚Verein‘ oder einer beliebigen peer group-Sozialisation markiert“ (28).

Herrmann hat sich fĂŒr diese Herangehensweise von Meike G. Werners Arbeiten ĂŒber die Moderne in der Provinz [1] inspirieren lassen. Auch im vorliegenden Band zeichnet Werner luzid und ĂŒberzeugend mit ihrem Ansatz das Potenzial der Selbsterziehungs- und BildungsansprĂŒche der Jenaer Freistudentenschaft und des Serakreises nach. Dieser kulturwissenschaftliche Zugang eröffnet zweifellos wichtige Perspektiven fĂŒr die historische Jugendforschung, weil es um Perspektiven auf die Konstituierung ebenso wie auf die FragilitĂ€t von Sinnstrukturen, von symbolischen Ordnungen und v.a. von kulturellen sozialen Praktiken geht. Insofern ist es bedauerlich, dass der von Werner und Herrmann ausgehende Impuls in den ĂŒbrigen BeitrĂ€gen des vorliegenden Bandes nicht aufgegriffen wurde.

Um den historischen Kontext zu entfalten, verortet der Herausgeber den Wandervogel zunĂ€chst im geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext vor dem Ersten Weltkrieg. Justus H. Ulbricht geht der Bedeutung und Rezeption Nietzsches fĂŒr die Jugendbewegung nach. Diethart Kerbs, dem die historische Forschung zusammen mit JĂŒrgen Reulecke das ‚Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933‘ [2] verdankt, rekonstruiert das Entstehen eines „Àsthetischen Gewissens“ (115) in den Reformbewegungen, das aus einem „Àsthetischen Mißbehagen“ (117) resultiere. Kerbs spannt am Ende seines Beitrags schließlich den Bogen zu aktuellen Bewegungen aus dem Umfeld von Globalisierungskritikern und klagt eine neue „Ästhetik des Widerstands“ ein. Harald Scholtz schließlich zeichnet die zentralen StrĂ€nge der Jugendpolitik des Kaiserreichs nach, bezieht die Bedeutung der proletarischen Jugend mit ein und fokussiert vor allem das Interesse der politisch Verantwortlichen an der Vereinnahmung und Lenkung der Jugend. Er macht auf diesem Wege deutlich, dass auch der Wandervogel ohne die Rolle der Erwachsenen nicht verstehbar ist.

In diesem Abschnitt wird insbesondere denjenigen Leserinnen und Lesern, die sich einfĂŒhrend mit der bĂŒrgerlichen Jugendbewegung befassen wollen, insgesamt ein guter Einblick in den Entstehungs- und Entfaltungskontext des Wandervogels geliefert. Allerdings stellt sich die Frage, warum hier die (reform-)pĂ€dagogischen Bewegungen und das wachsende wissenschaftliche Interesse an der Jugendphase eher randstĂ€ndig behandelt werden.

Unter der Überschrift „das eigene Wollen: der ‚neue Mensch‘ – der neue Lebensstil“ finden sich sechs BeitrĂ€ge. Bernd Wedemeyer-Kolwe untersucht die ebenso programmatisch wie alltagspraktisch ausgerichtete Körperkultur in der Jugendbewegung, Irmgard Klönne das GeschlechterverhĂ€ltnis, Meike Werner geht auf die Entwicklungen in der Provinz ein, Ulrich Linse auf den Umgang mit einem abstinenten Lebensstil, Helmut König analysiert die reprĂ€sentativen LiederbĂŒcher, zu denen nicht nur der „Zupfgeigenhansl“ gehörte, und Stefan Krolle den Geist, der sich in den Liedern der Jugendbewegung manifestierte.

Alle BeitrĂ€ge haben einen eigenstĂ€ndigen klaren Zugang, sie ermöglichen ein VerstĂ€ndnis, warum das Erlebnis fĂŒr die jungen Beteiligten so einschneidend war und nicht zuletzt materialisieren sie jugendtheoretische Überlegungen. Besonders interessant und weiterfĂŒhrend wird es dort, wo der Facettenreichtum der Bewegung und die Eigenwilligkeit einzelner Gruppen oder Personen zur Sprache kommen. Hier zeigt sich, dass insbesondere solche „Fallstudien“ einen aufschlussreichen Beitrag zur neueren Forschung ĂŒber die Jugendbewegung leisten können. So verdeutlicht Meike Werner die Ambitionen und Überzeugungen Ferdinand Vetters, der in Jena fĂŒr die Aufnahme von MĂ€dchen und die Einbeziehung von VolksschĂŒlern eintrat und dies auch erziehungstheoretisch begrĂŒndete. Werner arbeitet am Beispiel der Freistudenten und des Serakreises das intellektuelle Potenzial dieses spezifischen Kontextes heraus. Ulrich Linse gelingt es anhand der Diskurse um die Forderung nach Enthaltsamkeit deutlich zu machen, dass der Wandervogel in der bĂŒrgerlichen Lebensreformbewegung nicht aufging. Neben so schillernden Protagonisten wie Ferdinand Vetter in Jena oder Hans Breuer setzt Linse sich aufschlussreich mit dem vom „Helmut Harringa“-Autor Hermann Popert und Hans Paasche gegrĂŒndeten abstinenzlerischen „Deutschen Vortrupp-Bund“ auseinander. Diese Passagen ĂŒber die „Avantgarde der Lebensreformbewegung“ (223) liefern insbesondere einen dichten Einblick in das durchaus auch vorhandene Konfliktpotenzial mit der ReformpĂ€dagogik der Zeit.

Die fĂŒnf BeitrĂ€ge im dritten Abschnitt des Bandes verbinden wirkungsgeschichtliche und gesellschaftstheoretische Überlegungen. Die utopischen Elemente ebenso wie die hĂ€ufig fast ritualisierte Problematisierung der Position der Jugendbewegung in der Gesellschaft sind vermutlich fĂŒr das Verstehen dieses PhĂ€nomens unabdingbar. Überzeugend ist deshalb auch die Eröffnung dieses Abschnitts mit dem Beitrag von Roland Eckert ĂŒber Jugend als Utopie. In dem sehr gelungenen Beitrag arbeitet der Autor das Bewusstsein der Jugend, das Wesentliche zu erleben, heraus und stellt eine VerknĂŒpfung zu dem Konzept der Selbsterziehung her. Eckerts Rekonstruktion, wie das Eigene zum Eigentlichen erklĂ€rt wird, öffnet den Horizont der historischen Analyse des Wandervogels.

JĂŒrgen Reulecke geht u.a. im RĂŒckgriff auf das VerhĂ€ltnis von IndividualitĂ€t und KollektivitĂ€t und ausgehend von einem 1906 erschienenen „ironisch-fiktiven“ (309) Blick eines Wandervogels auf die nĂ€chsten 100 Jahre den Zukunftsvisionen an sich und der Überzeugung eigener Gestaltungsmöglichkeiten und -kompetenzen nach. Reulecke versĂ€umt es am Ende seines Beitrags nicht, gerade in diesem Zusammenhang den Bogen zum Nationalsozialismus zu spannen und auf die Instrumentalisierungsmöglichkeiten der Jugend zu verweisen. Hans-Ulrich Wipfs Artikel befasst sich mit der Wirkung der studentischen Jugendbewegung an den Hochschulen und UniversitĂ€ten und Norbert Schwarte mit der Wirkung der Jugendbewegung auf die Jugendhilfe. Schwarte zeigt die Leitbildfunktion der Kameradschaftlichkeit auf und macht deutlich, dass daraus auch die Bereitschaft zu einem Engagement in der Sozialen Arbeit resultierte. Besonders markant tritt der Zusammenhang von Jugendbewegung und der Geschichte der Sozialen Arbeit und SozialpĂ€dagogik in den Überzeugungen Karl Wilkers und in dessen TĂ€tigkeit im „Lindenhof“ hervor. In Schwartes systematisch dichtem Beitrag gewinnt man einen guten Einblick in die Ursachen des pĂ€dagogischen Scheiterns, aber vor allem in die Grenzen der Wirksamkeit jugendbewegter Ideale. Abgeschlossen wird der Band schließlich mit Heiner Ullrichs wichtiger und informativer Analyse des Hamburger „Wendekreises“. Zu ihm gehörten junge, jugendbewegte ReformpĂ€dagogen, die in Hamburg u.a. der Kunsterziehungsbewegung und der Idee der „PĂ€dagogik vom Kinde aus“ nahe standen.

Insgesamt handelt es sich um eine aufschlussreiche und umfassende ZusammenfĂŒhrung bewĂ€hrter Forschungsergebnisse und DiskussionsstrĂ€nge zum Wandervogel in der bĂŒrgerlichen Jugendbewegung. Weniger geht es angesichts des JubilĂ€ums um ĂŒberraschende und ganz neue Einsichten in dieses PhĂ€nomen, das seit seinem Bestehen einer intensiven historischen Betrachtung unterliegt. Die Intention dieses Bandes zielt eher auf eine Bestandsaufnahme ĂŒber Themenkomplexe, die sehr eng mit dem Wandervogel verbunden waren. Die Vernetzungen und Diskurse darĂŒber hinaus könnten kĂŒnftig stĂ€rker die Forschung ĂŒber den Wandervogel anleiten. Ein anderer Blick auf die Ambivalenz der Jugendbewegung ist – wie oben bereits dargelegt – durch einen kulturtheoretischen Ansatz möglich, auch könnte fĂŒr die historische Bildungsforschung eine theoretisch-systematische Analyse informeller Bildungsprozesse durch Partizipation an sozialen Bewegungen aufschlussreich sein oder eine stĂ€rker diskurstheoretisch ausgerichtete Analyse, die sich noch einmal den prekĂ€ren Themen wie Macht, Bevormundung, Elitedenken oder Ausgrenzung zuwendet.

Nicht zuletzt sei angemerkt, dass aus dem Wandervogel zahlreiche schriftliche Zeitdokumente und Bilder ĂŒberliefert sind und es dem Herausgeber sowie den Beitragenden gelungen ist, eine sehr gute Auswahl solcher Quellen, die den Band mehr als illustrieren, zu treffen. So hat Ulrich Herrmann ein lesenswertes Buch ĂŒber ein faszinierendes und ambivalentes PhĂ€nomen herausgegeben.

[1] Werner, Meike G. (2003): Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de SiÚcle. Jena, Göttingen: Wallstein.
[2] Kerbs, Diethart/ Reulecke, JĂŒrgen (Hrsg.) (1998): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933. Wuppertal: Hammer.
Sabine Andresen (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabine Andresen: Rezension von: Herrmann, Ulrich (Hg.): "Mit uns zieht die neue Zeit...", Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung. Weinheim: Juventa 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77881133.html