EWR 5 (2006), Nr. 6 (November/Dezember)

Gert Biesta
Beyond Learning
Democratic Education for a Human Future
Boulder, London: Paradigm Publishers 2006
(171 S.; ISBN 1-59451-234-5)
Beyond Learning In seinem kürzlich erschienen Buch „Beyond Learning: Democratic Education for a Human Future" fragt Gert Biesta, Professor für Bildungs- und Erziehungsphilosophie an der Universität Exeter (GB), nach den Möglichkeiten einer education, die nicht von einem selbsttransparenten und selbstgenügsamen Subjekt ausgeht. Gefragt wird damit auch nach einer Alternative zum abendländischen Humanismus und seinen Vorstellungen einer wahren Bestimmung des Menschen. Das hier entwickelte Verständnis von "education" lässt sich nicht einfach mit "Bildung" übersetzen; denn Biesta will seine Aufmerksamkeit vor allem auf die sozialen und politischen Dimensionen lenken, denen er eine höhere Bedeutung zumisst, als dies in der (tendenziell) individualtheoretisch ausgerichteten Bildungstradition der Fall ist. Gleichwohl ist die Sorge der Bildung um die Menschlichkeit des Menschen immer mit Kritik und Selbstkritik verbunden gewesen und daher verwundert es nicht, dass Biesta, der mit der deutschen pädagogischen Tradition gut vertraut ist, wiederholt diesen Begriff aufgreift. Im Folgenden soll "education" unübersetzt bleiben – im Einklang mit der Fragestellung des Buches, die ein gewandeltes Verständnis dieses Begriffs erst zu gewinnen sucht.

Biestas Studie ist für die deutschsprachige Bildungs- und Erziehungsphilosophie von besonderem Interesse. Dieser Satz legt es nicht vordringlich auf die längst geforderte Internationalisierung dieses Teilbereichs der Erziehungswissenschaft an. Interessant ist Biestas Studie vor allem dahingehend, wie Pädagogisches und Philosophisches verbunden werden, welche Autorität "den Philosophen" in Biestas Argumentation zukommt und schließlich: wie das Verhältnis von Deskriptivität und Normativität anvisiert wird. Diese Fragen rücken auch wegen der sehr unterschiedlichen philosophischen Bezugsquellen ins Zentrum, denen fast nur die Abwendung vom konstituierenden Subjekt der Moderne gemeinsam ist: Foucault, Heidegger, Levinas, Derrida, Dewey, Arendt.

Im ersten der sechs Kapitel profiliert Gert Biesta sein theoretisches Anliegen durch eine Entgegensetzung zum gegenwärtigen Diskurs des (lebenslangen) Lernens. Biestas These ist, dass der Lerndiskurs etwas verschwinden lasse, das durch ein Sprechen über education zurück gewonnen bzw. wieder erfunden werden müsse [reclaim, reinvent]. Im herrschenden Diskurs werde "Lernen" zunehmend im Sinne einer ökonomischen Transaktion verstanden, in der die Lernenden als Konsumenten, die Bildungsinstitutionen als Anbieter und das zu Lernende als Ware erscheinen würden. Biesta kritisiert die Implikationen dieses Verständnisses: die Annahme, dass den Lernenden das Lernen und die Bedeutung der Lerngegenstände transparent seien, dass Lernen einfach und bequem, dass es individuell und d.h. unabhängig von sozialen Strukturen sei etc. Wem die entsprechenden Arbeiten von deutschen Fachkollegen vertraut sind, werden diese Kritikpunkte bekannt sein. Eine große Schwierigkeit der vorliegenden Argumentation bleibt jedoch die eigene pädagogisch unversehrte Perspektive, die das Pathos pädagogischer Wahrhaftigkeit nicht los wird. Obgleich Biesta sich um Differenziertheit bemüht und betont, dass die gegenwärtige Rede vom Lernen nicht pauschal verurteilt werden könne, lebt seine Sicht von einer transzendentalen Sicherungsstrategie des Pädagogischen. Diese äußert sich in der "Kontrastfrage": "What constitutes an educational relationship?" (24). Welchen Status haben die Aussagen, dass ohne grundloses Vertrauen keine pädagogische Beziehung möglich sei, dass ''education'
' ihren Anfang nur nehmen könne, wenn der Lerner bereit sei, ein Risiko einzugehen?

Biesta tritt mit einer Hypothek des Pädagogischen auf: Education hat mit dem "Zur Welt-Kommen" von singulären Einzelnen zu tun. Im zweiten Kapitel erläutert Biesta, was dies nach dem "Tod des Subjekts" heißen kann. Im Anschluss an die Subjekt- und Humanismuskritik Foucaults, Heideggers und Levinas' erläutert Biesta, dass ihm nicht an einer Abschaffung des Subjekts gelegen sei, sondern an einer Problematisierung der transzendentalen Vorrangstellung von Subjektivität. Biesta spricht demgegenüber von einem "Zur-Welt-kommen" der singulären Einzelnen. Dieses Zur-Welt-Kommen verdankt sich nicht dem Einzelnen, sondern stellt ein Ereignis im sozialen Raum dar, das eine Antwort bzw. Verantwortung des unaustauschbaren singulären Einzelnen erfordert. Diese Antwort und Verantwortung sei und ist näher zu beleuchten.

Im dritten Kapitel, überschrieben mit „Die Gemeinschaft jener, die nichts gemein haben" (nach dem Titel eines Buches des Levinas-Übersetzers Alphonso Lingis), rekapituliert Biesta zunächst die Tendenz der Moderne, Fremde einzuverleiben oder auszuschließen (Bauman), wobei die Rationalität als regelnder Maßstab der modernen Gemeinschaft diene und ihre Mitglieder austauschbar mache. Im Gegensatz dazu stellt sich Biesta eine Gemeinschaft von, mit oder zwischen Fremden vor, an die er mit seinem Konzept der "education" ansetzt: In dieser Gemeinschaft wird „die Sprache der Responsivität und Verantwortung" (65) gesprochen. Biesta erläutert dies durch soziale Situationen, in denen nicht von Bedeutung ist, was gesagt wird, sondern wer spricht, z.B. in Sterbebegleitungen und im ersten Sprechen mit Kindern (Lingis). Die Entgegensetzung von Rationalität und Fremdheit dient Biesta dazu, einen grundlegend ethischen und politischen Zug von "education" geltend zu machen, der nicht auf der moralischen Selbstsicherheit der Person bzw. des Subjekts beruht. Es handelt sich um eine Verantwortung ohne Wissen.

Spätestens an dieser Stelle machen sich die Schwierigkeiten einer Pädagogik bemerkbar, die einen Umgang mit dieser – nicht auf einen Nenner zu bringenden – Gemeinschaft sucht: „How difficult should education be?" (73). Biesta will ein dekonstruktives Nachdenken über "education" anstoßen: Die Logik der education bestehe gerade darin, dass die Bedingung ihrer Möglichkeit zugleich die Bedingung ihrer Unmöglichkeit sei. Biesta erläutert seine These anhand des Umgangs mit Pluralität und Uneinigkeit im Kontext politischen Denkens. Während der politische Liberalismus die Uneinigkeit und Pluralität als zu überwindendes Hindernis interpretiere, sehe z.B. Hannah Arendt diese Pluralität allererst als die Voraussetzung des "Zum-Vorschein-Kommens" der Einzelnen und der Dimension des Handelns.

Dieser theoretischen Dimensionierung ist eine Absage an ein technologisches Verständnis der Pädagogik implizit. So kommt Biesta auf die Frage, was Pädagogen angesichts der dargestellten aporetischen Konstellation eigentlich tun können. Die Antwort auf diese Frage lautet, dass sie sich gleichzeitig um die Hervorbringung und De(kon)struktion eines (im ursprünglichen Sinne) politischen Raums [worldly space] kümmern müssen. Diese Aufgabe gleiche der eines Architekten, dem daran gelegen dass Menschen sich in Gebäuden begegnen und etwas miteinander zu tun haben: In der Architektur gibt es eine umfangreiche Kritik am Funktionalismus und ein Bewusstsein für die Unverfügbarkeit der Räumlichkeit des Raums seitens des Architekten. An den Arbeiten des Architekten Hertzberger verdeutlicht Biesta die Bedeutung von Sozialität und Öffentlichkeit der zu gestaltenden Räume: Zentral sei hier eine Sichtbarkeit (nicht im Sinne panoptischer Überwachung), sondern als Möglichkeit Einzelner, in der Begegnung mit anderen zum Vorschein zu kommen. Für Pädagogen bedeute dies das Paradox, für Situationen Verantwortung zu übernehmen, die theoretisch wie praktisch unverfügbar seien: „The responsibility of the educator, so I wish to suggest, lies precisely in a concern for the paradoxical […] combination of education and its undoing" (115f., Hervorh. G.B.).

Im letzten Kapitel „Education and the Democratic Person" wird das gewandelte Verständnis von education als Zur-Welt-Kommen in einem welthaften oder politischen Raum noch einmal auf den Punkt gebracht. Die geläufigen Konzepte einer Bildung/Erziehung zur Demokratie setzen häufig bei den Kompetenzen und Fähigkeiten an, welche die Individuen für eine Partizipation in der Demokratie zu erwerben hätten. Gegen solche Konzepte spreche zunächst die Überforderung, die darin bestehe, alle gesellschaftlichen Probleme als pädagogische definieren zu wollen. Mit Dewey macht Biesta einen sozialen Demokratiebegriff geltend: Demokratie beziehe sich zuförderst auf die "Herstellung, Erhaltung und Veränderung des sozialen und politischen Lebens im allgemeinen" (122). Dieser besondere Sinn werde durch eine Orientierung an individuellen Kompetenzen nicht erreicht. Zuletzt bleibe aber auch Deweys Bildungskonzept der Sicht auf ein sozial kompetentes Individuum verhaftet. Die Spuren des Individualismus verschwänden erst, wenn man, wie Hannah Arendt dies getan hat, das Anfangen und die Unabsehbarkeit des Handelns in der Interaktion mit anderen hervorheben würde. Wenn das Subjekt nur Subjekt im Handeln sein könne, dann ergebe sich, so Biesta, eine andere Relationierung von Demokratie und education. Drei Fragen werden hier formuliert: Was für Schulen brauchen wir, damit Schüler und Studierende handeln können? Wieviel Handeln ist tatsächlich in Schulen/ in der Gesellschaft möglich? Was können wir davon lernen, ein Subjekt (gewesen) zu sein? Biesta macht deutlich, dass seine Überlegungen nicht in eine Schüler zentrierte Perspektive einmünden und dass die heute allseits ergehende Forderung der Selbstpräsentation seinem pädagogischen Anliegen diametral entgegengesetzt ist.

An vielen Stellen dieses Buches wird man an die Arbeiten deutscher Kollegen erinnert, z.B. an Theodor Ballauffs "Revolution der Denkungsart", die eine Abkehr von der menschlichen Selbstbezüglichkeit impliziert. Die Ausführungen im vierten Kapitel rufen Michael Wimmers Überlegungen zur Bedeutung der Paradoxie für die Pädagogik auf: Das Pädagogische entziehe sich dem Wissen, aber in diesem Nicht-Wissen oder Nicht-Wissen-Können liege gerade die Besonderheit des Pädagogischen. Weiterhin lassen sich enge systematische Verbindungen zwischen Gert Biestas und Käte Meyer-Drawes Arbeiten hinsichtlich der Konstitutivität von Sozialität bzw. Intersubjektivität für die Pädagogik feststellen. Die Ausführungen zur demokratischen Person werden von Roland Reichenbachs Arbeiten weitergeführt, der versucht, auf Biestas Fragen zu antworten.

Es ist vor allem die Konsequenz, mit der hier die Bedeutung von Ethik und Politik für die Pädagogik aufgearbeitet wird, welche die LeserInnen zu einem Perspektivwechsel auffordert. Ohne vorgängiges konstituierendes Bewusstsein, das unbelastet auf die Welt zugeht, wird auch die immer noch gängige Unterscheidung von Deskriptivität und Normativität für eine systematisch-erziehungswissenschaftliche Reflexion nachgängig bzw. nachrangig. Es ist ein bisschen schade, dass diese Verschiebung sich nicht gänzlich in der Sprache Biestas niedergeschlagen hat. So passt beispielsweise der Untertitel „Democratic Education for a Human Future" weder zu der elaborierten Kritik am Humanismus noch zu der Einsicht, dass die Pädagogik an den Grenzen jeder möglichen Existenz existiert. Eine weitere Frage ist, wie sich die genannte Verschiebung auf den Gesamtzusammenhang erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung auswirkt. Solche Fragen nach der Gesamtarchitektur gehören nicht zum Anliegen des Buches.

Gert Biestas Studie lebt von seinen ansprechenden und anspruchsvollen philosophischen Bezügen. Um die Lesbarkeit und Gerichtetheit auf das eigene Konzept zu fördern, hat Biesta einen sehr freizügigen und selektiven Umgang mit den Philosophen/innen gewählt. Mitunter fragt man sich, ob es wirklich so leicht geht: ob sich Foucault und Arendt so nebeneinander stellen lassen und ob die einzelnen Denker derartig auf den Kontext der Untersuchung hin vereinheitlicht werden können. Anders herum kann man gerade den gelassenen, unphilologischen Umgang mit den Philosophen positiv sehen. Dies, der Versuch, die Provokationen bzw. Anregungen des Poststrukturalismus aufzunehmen, und schließlich der Mut, mit ihnen einen pädagogischen Gedankengang aufzunehmen, der nicht vor seinen Grenzen zurückschreckt, dürften für die deutschsprachige Bildungs- und Erziehungsphilosophie Denkanlässe darstellen. Insgesamt zeigt sich deutlich, dass es zwischen dem anglo-amerikanischen und dem deutschen Diskurs genügend Gesprächsstoff gibt. Dann geht es nur noch um den Einsatzpunkt für ein Gespräch.
Christiane Thompson (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Biesta, Gert: Beyond Learning, Democratic Education for a Human Future. Boulder, London: Paradigm Publishers 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/59451234.html