EWR 5 (2006), Nr. 6 (November/Dezember)

Elisabeth von Stechow
Erziehung zur Normalität
Eine Geschichte der Ordnung und Normalisierung der Kindheit
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2004
(212 S.; ISBN 3-531-14224-0; 24,90 EUR)
Erziehung zur Normalität Hilfeleistungen im pädagogischen und sonderpädagogischen Feld sind immer von vielschichtigen Ambivalenzen geprägt. Neben der Hilfe-Stellung bzw. Hilfe-Leistung bei bestimmten Schwierigkeiten bedeutet Hilfe auch die Verortung des Kindes in einem hilfebedürftigen Status, der über die Grenzziehung Normalität/Nicht-Normalität bzw. Abweichung markiert wird. Diese Grenzziehung hat zum Teil gravierende Auswirkungen auf die von ihr betroffenen Kinder.

Ausgehend von dieser Ambivalenz ist es das Ziel der Studie von Elisabeth von Stechow, die Entwicklung der Konstruktion von Normalität und somit von Abweichung im pädagogischen Kontext sowie die Funktion dieser Konstruktion für den pädagogischen Bereich nachzuzeichnen. Als Anlass für ihre Überlegungen benennt sie die Beobachtung, dass in der Verhaltensgestörtenpädagogik der Begriff der Normalität zwar einen zentralen Stellenwert einnimmt, dieser aber diffus und unscharf bleibt, ihm also letztlich die theoretische Fundierung fehlt. Voraussetzung für die Feststellung, Diagnose und Begründung einer Abweichung (und von sich anschließenden Hilfeleistungen des pädagogischen und sonderpädagogischen Systems) ist die Feststellung dessen, was als „normales Verhalten“ bezeichnet werden kann. „Normales Verhalten“ fasst von Stechow dabei jedoch von Anfang an als Konstruktion, also als eine konsensgetragene (gesellschaftliche) Vereinbarung, die verschiedenen Einflüssen und Veränderungen unterworfen war und ist.

Als zentrale Referenzautoren für ihre Untersuchung dienen Link, Foucault, Elias und Ariès; diese weisen den diskursanalytischen, normalismustheoretischen, wissenssoziologischen und ideengeschichtlichen Charakter der Arbeit aus. Im Vordergrund der in vier Kapiteln unterteilten Arbeit stehen dabei die zeitgenössischen Menschen- und vor allem Kinder-Bilder, die die Gesellschaft seit dem Mittelalter hervorgebracht hat. Kulturelle, politische und ökonomische Aspekte sind wichtige Eckpunkte der Betrachtung. Aber auch der Einfluss von Medizin und Naturwissenschaft auf die gesellschaftlich konstruierten Bilder wird herausgestellt.

Den theoretischen Grundstein der Arbeit legt das erste Kapitel und setzt sich mit Theorieansätzen zur Erklärung der gesellschaftlichen Hervorbringung von Normalität und Vorstellungen von einem normalen Verhalten auseinander. Der Begriff der „Normalität“ wird in Anschluss an Link und Foucault diskutiert und theoretisch gefasst als Bild der jeweiligen Trends und Standards einer Gesellschaft, über die Einigung besteht bzw. diskursiv hergestellt wurde. Mit Elias wird der Wandel der Verhaltensdisziplinierungen von Fremdzwang und Kontrolle hin zu Selbstzwang und Selbstkontrolle und folglich die Verflechtung von Verhalten und sich differenzierender Gesellschaft in die Untersuchung eingebracht. So kann die Anforderung an Kinder, ein bestimmtes „normales“ Verhalten herauszubilden, als typisches Merkmal der modernen westlichen Gesellschaft interpretiert werden. Gleichzeitig definiert die Festlegung des „normalen“ Verhaltens das „abweichende“ Verhalten. Als pädagogisches Problem ergibt sich, dass der Umgang mit „abweichendem“ Verhalten, also mit Verhaltensstörungen, eindeutige Kriterien erfordert, Verhalten sich jedoch kaum kategorisieren lässt, da die Beurteilung von Verhalten von verschiedenen Variablen, unter anderem auch vom Beobachter selbst abhängig ist.

Von Stechow stellt in Anlehnung an Weinmann fest, dass der Begriff der Normalität im fachdisziplinären Diskurs der Heil- und Sonderpädagogik ausgeklammert wird und legt, um diese Lücke (ansatzweise) zu schließen, im ersten Kapitel den Schwerpunkt auf die Normalismusforschung mit Link (Leben und Lernen in Kurvenlandschaften) und Foucault (Die Normalisierung des bürgerlichen Kindes). Weiter werden mit Elias und Ariès in erster Linie soziologische Erklärungsansätze von kindlichem Verhalten vorgestellt. So lässt sich festhalten, dass Normalität als Produkt von modernen Gesellschaften gesehen werden kann.

Kapitel zwei widmet sich der Analyse der Diskurse über die Ordnung und Normalisierung der Welt des Kindes in der Neuzeit und in der Bürgerlichen Gesellschaft. Auf der Grundlage der zuvor erörterten Referenztheorien untersucht von Stechow Schulordnungen der Neuzeit als historische Quellen. Sie zeichnet nach, wie sich die Kindheit als eigene Lebensphase (Comenius) herausbildet und wie diese zunehmend organisiert wird. Ausgehend von den jeweilig vorherrschenden Kinder-Bildern präsentiert von Stechow Bilder von guten Kindern und von bösen bzw. sündigen Kindern in der christlichen Antike und im Mittelalter. Deutlich wird hier die Wandlung vom bösen Kind, das es in diesem Sinne heute nicht mehr gibt, zum schwierigen, nervösen, schwererziehbaren oder verhaltensgestörten Kind. Die Zeit erweist sich als wichtiges Ordnungs- und Organisationsinstrumentarium und führt etwa zur Einführung von Schulstunden und Altersklassen mit all den sich in pädagogischer Hinsicht ergebenden Schwierigkeiten wie die problematische Herstellung von Leistungs- und Altershomogenität. Effizienz, also die Vermeidung von Zeit-Verschwendung, steht im Vordergrund.

Die Einführung von Disziplinierungsmöglichkeiten etwa durch (körperliche) Strafen setzt sich ebenso als Kontroll- und Ordnungsinstrumentarium durch. Mit Link hält von Stechow fest, dass Annahmen über Normalität und Abweichung sich zwischen 1820 und 1879 etablieren. Körperliche Strafen werden durch normalisierende Maßnahmen wie Beurteilungen der Schülerleistungen und des Schülerverhaltens als neues zentrales Thema der Schulpädagogik ersetzt, etwa an Hand von „Durchschnitten“ und Grenzziehungen zwischen „normalem“ Verhalten und „psychopathischem“ Verhalten. Deutlich wird an dieser Stelle auch, dass der Durchbruch des Normalismus bzw. das Interesse am Normalen geprägt ist von erheblichen Denormalisierungsängsten, die auch die Ängste in der Bevölkerung schüren. Normalisierungstechniken weiten sich ebenso auf den Schul-Raum aus. Bänke und Stühle werden nach der Idee der „normalen“ Körpergröße eines bestimmten Lebensalters geformt. Weiter gerät der Körper der Kinder in den Blick von Normalisierungsversuchen. Sie werden zu einer erwünschten Haltung und vor allem zu einem triebunterdrücktem Verhalten erzogen. Normalisierende Techniken haben demnach die Funktion, Ordnungswünsche in der Gesellschaft zu befriedigen und Ängste vor (eigener) Abweichung unter Kontrolle zu halten, bzw. ausblenden zu können.

Die Abweichungen von der bürgerlichen Normalität thematisiert von Stechow in Kapitel drei. Im Zeitraum vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ist in der Heil- und Sonderpädagogik die „Lehre von den Kinderfehlern“ (Strümpell) von Bedeutung. Anders als die Sozialpädagogik, die in Bezug auf problematische Erziehungssituationen eine gesellschaftskritische Perspektive einnimmt, liegen für die Heil- und Sonderpädagogik und ihre pädagogisch-psychiatrische Tradition die Probleme im Kind. Als normalistische Tendenz entwickelt sich eine Hinwendung zu medizinisch-psychiatrischen Erklärungen und somit eine Abkehr von den „einheimischen“ Begriffen der Pädagogik. Dem Erzieher fällt die Aufgabe zu, die „Kinderfehler“ zu heilen. Als Vertreter der „Fehlerlehre“ werden Herbart und Strümpell vorgestellt. Gerade Herbart kann, laut von Stechow, aus heutiger Perspektive als Wegbereiter des Normalismus in der Pädagogik gesehen werden. Die in dieser Zeit entstehenden Bilder des „psychopathologisch minderwertigen“ Kindes werden geprägt von Schinz (1898), Trüper (1900) und Heller (1910). Abgelöst wird der Begriff der „Psychopathologischen bzw. psychopathischen Minderwertigkeit“, der sich bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts halten kann, schließlich von dem Begriff der „Verhaltensstörung“. Auf Grund der „Fehlerlehre“ war die pädagogisch-psychiatrische Heilpädagogik nun in der Lage, dass Kind als Klienten zu konstruieren, Symptome zu diagnostizieren und den Behandlungsbedarf zu rechtfertigen. Weiter wirft Elisabeth von Stechow in diesem dritten Kapitel einen Blick auf die aktuellen Normalitätsdiskurse in der Verhaltensgestörtenpädagogik. Trotz der stark differierenden Vorstellungen über Verhaltensstörungen lässt sich als Gemeinsamkeit die Vorstellung vom normalen Verhalten feststellen.

Deutlich wird die starke Prägung der Heil- und Sonderpädagogik durch Psychiatrie und Pathologie, so dass die Abweichung auch heute noch im Vordergrund steht. Wieder stellt die Verfasserin fest, dass der Begriff der Normalität unreflektiert bleibt, obwohl er eine zentrale Kategorie der Disziplin darstellt. Die aktuellen Diskurspositionen zum Begriff der Verhaltensstörung sind breit gestreut. Exemplarisch greift von Stechow die Positionen von Myschker und Schlee heraus: Während Myschker der Auffassung ist, dass normabweichendes Verhalten gekennzeichnet werden muss, um helfende Maßnahmen einzuleiten, sieht Schlee den Begriff der Verhaltensstörung als Leerformel, die jedoch die Definitionsmacht von Erwachsenen veranschaulicht. In ihrem Resümee stellt von Stechow fest, dass die Nutzung von Kategorien zur Beurteilung von Verhaltensweisen zwar den Vertretern der Disziplin Unbehagen bereitet, dennoch weiter nach Kategorien gesucht wird. Die eingangs beschriebene Ambivalenz in Hilfesystemen tritt an dieser Stelle noch einmal zu Tage.

Das nur wenige Seiten umfassende vierte Kapitel mit der Überschrift „Erziehung zur Normalität“ bietet eine zusammengefasste Momentaufnahme der aktuellen, widersprüchlichen Diskurse der Disziplin. Von Stechow stellt fest, dass es verführerisch erscheint, die pädagogisch-psychiatrische Tradition der Heilpädagogik fortzuführen, da sie Eindeutigkeit hinsichtlich Diagnose und Fördermaßnahmen zu bieten scheint. Gleichzeitig erweisen sich diese Maßnahmen in ihren Augen auch als repressiv, disziplinierend, inhuman und wenig effizient. Letztlich, so hebt die Verfasserin abschließend hervor, bleibt die Erziehung zur Normalität trotz aller Widersprüche das maßgebliche Ziel in der modernen Gesellschaft. Normalität ist jedoch dem Wandel unterlegen und wird von der Generation der jetzt Heranwachsenden wiederum verändert werden.

Das Ziel der von Elisabeth von Stechow vorgelegten Arbeit ist es, die Genese und Funktion der Konstruktion von Normalität und Abweichung nachzuzeichnen. Ersteres stellt sicherlich den Schwerpunkt der Untersuchung dar und bietet mit der Auseinandersetzung mit den historischen Quellen einen sehr umfassenden, in der Zeit weit zurückgehenden Einblick in die gesellschaftliche Formung der Begriffe „Normalität“ und „Abweichung“. Sehr plastisch werden für den Leser bzw. die Leserin die Kinder-Bilder, die mit Bildmaterial unterlegt, den Wandel und die verschiedenen Sichtweisen auf das Kind präsentieren. Diese Herangehensweise stellt zugleich einen neuen Zugang zu diesen Begriffen dar, der weit ab vom Mainstream des disziplinären Umgangs mit Abweichungen und abweichendem Verhalten liegt. Die Funktion oder auch der Nutzen, den die Konstruktion von Normalität und Abweichung allen Beteiligten bietet, wird hingegen eher angedeutet. Wichtige Punkte, die jedoch nur kurz angesprochen werden, sind die Abwehr von eigenen Denormalisierungsängsten und die Legitimation des helfenden Systems (also etwa von heil- und sonderpädagogischen Fördermaßnahmen). Durch die sehr detaillierte Beschreibung, wie Normalität und Ordnung über die Jahrhunderte organisiert wurde, wird der Leser bzw. die Leserin aufgefordert, Normalität nicht als etwas natürlich Gegebenes, sondern als etwas Verhandelbares zu betrachten und die eigenen Normalitätsvorstellungen und eventuelle Ängste vor eigener Denormalisierung unter die Lupe zu nehmen.

Somit kann das Buch einen Beitrag dazu leisten, die eigene Beobachterposition zu klären und den Blick auf die in der Praxis zu betreuende Klientel zu erweitern. Gleichwohl werden Leser und Leserin an dieser Stelle auch auf die Probe gestellt, da auf Grund des historisch sehr weit zurückreichenden Blickes und der sehr verschiedenen Aspekte, die auf die Konstruktion der Begriffe Normalität und Abweichung einwirken, der Ausgangspunkt des Umganges mit dem Begriff der Verhaltensstörungen zeitweilig aus dem Blick zu geraten scheint (etwa bei den Ausführungen zur Entwicklung der Zeit und ihrer Bedeutung für die Schule).

Neben dem ausführlichen Einblick in die Entstehung der Begriffe Normalität und Abweichung bietet der Text einen guten Einstieg in die Möglichkeiten der Diskursanalyse und in die Diskurse zum Normalismus und ihrer weit reichenden Bedeutung für die Heil- und Sonderpädagogik. Durch den offenen Umgang mit den in der Disziplin zu findenden und in der (Post-)Moderne kaum noch zu umgehenden Widersprüchen und Ambivalenzen (etwa die Ablehnung von Kategorien und dem gleichzeitigen Versuch, bessere Kategorien für die Klassifikation von Verhalten zu finden) eignet sich das Buch besonders für Leserinnen und Leser, die Interesse daran haben, Ambivalenzfähigkeit auch in beruflicher Hinsicht zu entwickeln. Damit lässt sich der Blick auf die Disziplin erweitern, um sich aktiv mit den „Verführungen“ und Konsequenzen einer linear-kausalen „Förderpädagogik“ auseinandersetzen zu können.
Nicole Robering (Hagen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nicole Robering: Rezension von: Stechow, Elisabeth von: Erziehung zur Normalität, Eine Geschichte der Ordnung und Normalisierung der Kindheit. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2004. In: EWR 5 (2006), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/53114224.html