EWR 1 (2002), Nr. 5 (Oktober - Dezember 2002)

Niklas Luhmann
Das Erziehungssystem der Gesellschaft
Frankfurt a.M.: Suhr
(236 Seiten; ISBN 3-518-29193-9; 11,00 EUR)
Das Erziehungssystem der Gesellschaft Mit neun Faksimiles vom "Lehrmeister" selbst im Anhang versehen, liegt nun das von Dieter Lenzen herausgegebene letzte Buch aus Niklas Luhmanns Nachlass vor. In der editorischen Notiz klärt der Herausgeber den Leser über den Entstehungszusammenhang des Textes auf: Die "summa" Luhmanns systemtheoretischer Reflexionen zum Erziehungssystem entstand demnach als Manuskript parallel zu "Die Gesellschaft der Gesellschaft", "Die Politik der Gesellschaft" und "Die Religion der Gesellschaft". Überdies streicht Lenzen heraus, dass dieses Werk den seinerzeit mit Karl-Eberhard Schorr in den "Reflexionsproblemen im Erziehungssystem" (1979) verfassten Stand aufnehme und ihn unter dem Eindruck von Luhmanns eigener konstruktivistischen Entwicklung transzendiere. Luhmanns Manuskript sollte zwar noch erweitert werden, jedoch nicht um weitere Kapitel.

Das unvollendete Werk ist in sieben Kapitel unterteilt. Das erste mit dem Titel "Mensch und Gesellschaft" spannt im Vergleich zu anderen Kapiteln den weitesten Rahmen. Neben einer thesenhaften Auflistung gesellschaftstheoretischer Annahmen der Systemtheorie zum Auftakt, gelangt der Leser ĂĽber eine Explikation zur "Erziehung" zum Begriff "Mensch".

Es ist Luhmanns Verdienst, dass er bereits im ersten Kapitel unter einem bestimmten Aspekt seinen Text didaktisiert. Entgegen früheren Schriften leitet er seine Überlegungen tatsächlich mit dem Begriff "Mensch" in die Wege. Damit dürfte für die (immer noch) mehrheitlich subjekt- und handlungsorientiert denkenden Erziehungswissenschaftler die Irritation ihres Denksystems nicht von der ersten Seite an beginnen. In diesem Punkt bewahrheitet sich Lenzens editorische Anmerkung, dass Luhmann "nicht unbetroffen von defensiven Reaktionen mancher Pädagogen" argumentiere. Aus Luhmanns Perspektive ist der unreflektierte Begriff "Mensch" zwar im pädagogischen Binnenraum evident, er hat aber in den Außenbeziehungen zu anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen keinen Marktwert. In konsequent entfalteter Gedankenfolge wird sodann dieser Begriff Schritt für Schritt "dekonstruiert". Das Ergebnis ist bekannt: "Mensch" taugt nicht als Begriff für eine systemtheoretische Analyse. Um nicht in den Sog der Folgeprobleme einer Auseinandersetzung mit dem empirisch gegebenen Menschen zu geraten, wird auf den – an der Rechtstradition orientierten – formalen Personenbegriff ausgewichen.

Ähnlich wie im ersten Kapitel der Begriff "Mensch" zugunsten dem der "Person" verworfen wird, verliert im zweiten Kapitel der in der übrigen erziehungswissenschaftlichen Literatur hoch gehandelte Begriff der "Handlung" seinen privilegierten Platz an den der "Kommunikation". "Als Erziehung haben alle Kommunikationen zu gelten, die in der Absicht des Erziehens in Interaktionen aktualisiert werden." Auch die traditionell inhaltliche Definition von Erziehung wird durch eine formale ersetzt. So wird gerade bei der Lektüre dieses Kapitels eine Frage ins Bewusstsein des Lesers gehoben, die gerade diejenigen sich oftmals stellen, die mit systemtheoretischer Lektüre beginnen. Führt die erziehungswissenschaftliche Beschäftigung mit Systemtheorie wirklich erkennbar zu Erkenntniszuwächsen oder handelt es sich lediglich um eine Reformulierung bekannter pädagogischer Überlegungen in eine distanziert-kryptische Sprache?

Im dritten Kapitel hinterfragt Luhmann in der pädagogischen Tradition liebgewonnene Erziehungsgewissheiten. Das Kind sei tatsächlich nur eine soziale Konstruktion, die es dem Erzieher ermögliche, daran zu glauben, man könne Kinder erziehen. Da Menschen keine Trivialmaschinen seien, sondern selbstreferentielle Systeme, könne sich Erziehung nicht auf einen Direktzugang stützen, was im Inneren des Zöglings vor sich gehe. Aber selbst die soziale Konstruktion des Kindes werde im Zuge des 20. Jahrhunderts brüchig und durch die Vorstellung des Lebenslaufs ersetzt. Um dem weiteren Lebenslauf eine Richtung zu geben, gewönnen einzelne Personen andere Möglichkeiten durch Wissen, das die Erziehung produziere.

Die ersten drei Kapitel sind – in der Diktion Luhmanns – "anschlussfähig" für das jeweils darauf folgende Kapitel. Sie sind nicht nur textkohärent, sondern durch das Muster eines methodischen Ganges – etwa vom "Vertrauten zum Fremden" – geradezu leserförmig. Ganz anders verhält es sich mit dem vierten Kapitel zum "Interaktionssystem Unterricht". Unverbunden mit den zuvor konstruierten Gedanken wird die Interaktion in Schulklassen ansatzweise thematisch entfaltet – um dann steinbruchartig zu enden.

Die Überlegungen des darauf folgende Kapitels zur Ausdifferenzierung des Erziehungssystems sind – von einigen Ergänzungen abgesehen – gleich aufbereitet bereits in einem 1996 von Niklas Luhmann veröffentlichten Beitrag zum Erziehungssystem und die Systeme seiner Umwelt zu finden. Im Mittelpunkt steht hier das Verhältnis des Erziehungssystems zur Wirtschaft, zur Familie, zur Politik und zur Wissenschaft. Leitende Frage bei den jeweiligen Verhältnisbeschreibungen ist, in welchem Maße das Erziehungssystem autonom bleiben kann.

Im vorletzten Kapitel lässt sich deutlich ein inhaltlicher Anschluss an derzeitige Professionalisierungsdebatten im Bereich der Lehrerbildung erkennen. Luhmann präpariert Gemeinsamkeiten beim Professionswissen von Ärzten, Juristen und Pädagogen heraus. Zwar biete das jeweilige Wissen dieser Professionen eine große Zahl komplexer Routinen an, die in unklar definierten Situationen eingesetzt werden können, dennoch bleibe aber ihre Anwendung stets mit dem Risiko des Scheiterns belastet. Ein wichtiges Merkmal von Professionalität im Lehrberuf ist, nach Luhmanns Ausführungen, die Gelassenheit, mit der ein Lehrer Erfolge und Misserfolge erträgt. Wenn sein Handeln nach allen Regeln der Kunst verlaufe, brauche er Misserfolge, in der Regel nicht lernende Schüler, sich selbst nicht zuzurechnen – so wie die anderen Professionen es sich auch nicht zurechnen würden, wenn Therapien fehlschlügen oder Klienten Prozesse verlören.

Obwohl die Darstellung systemtheoretischer Gedanken oftmals in einem Spannungsverhältnis zum "traditionell-linearen Text" steht, erhält das abschließende Kapitel ("Selbstbeschreibungen") durch die starken historischen Rekurse einen abrundenden Charakter. Den Beginn der Selbstbeschreibung des Erziehungssystems datiert Luhmann ins ausgehende 18. Jahrhundert, personifiziert von Ernst Christian Trapp, der 1779 den ersten für Pädagogik eingerichteten Lehrstuhl besetzte. Von da an entstand nach Luhmann in wenigen Jahrzehnten eine mit sich selbst diskutierende pädagogische Literatur.

Gleich nach dem Erscheinungsdatum dieses letzten erziehungssoziologischen Buches Luhmanns haben einige "Adepten" eine zeitgemäße Lesart des Werkes vorgeschlagen, nach der angesichts der PISA-Studien ein hoher Erkenntniszuwachs über die Defizite des Schulsystems von der Lektüre zu erwarten wäre. Diejenigen allerdings, die sich angeregt durch vergleichende Schulleistungsstudien analysierend den Defiziten des Unterrichts nähern wollen, werden unzufrieden sein. Gerade das Kapitel zum Interaktionssystem Unterricht, das den größten Erkenntniszugewinn versprach, ist ein Fragment geblieben.

Für die Interpretation seines Textes kann Luhmann schwerlich verantwortlich gemacht werden; jedoch dafür, dass die vorwaltende Lesart Mängel verdeckt, die möglicherweise an den Produktionsbedingungen des Textes liegen. Bis auf einige Ausnahmen ist Luhmanns Referenzliteratur veraltet, nicht wenige Titel stammen aus den 1960er und 70er Jahren. Auch die Weiterentwicklungen systemtheoretischen Denkens innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Disziplin werden nur in Ansätzen wahrgenommen. Möglicherweise hat diese partielle Nichtbeachtung auch Methode – nämlich dann, wenn Luhmann als Beobachter die pädagogische Selbstbeschreibung durchbrechen will. Andererseits stößt die Textproduktion mit Hilfe seines (berühmten) Zettelkastens, "in" dem das Denken nach eigener Aussage stattfindet, an eine Grenze, wenn der Vorrat an Zetteln zum Erziehungssystem scheinbar seit einer bestimmten Zeit eine relativ feste Größe darstellt.

Die von Dieter Lenzen in der editorischen Notiz angedeutete Revision systemtheoretischen Denkens Luhmanns hinsichtlich der Pädagogik seit den "Reflexionsproblemen im Erziehungssystem" ist dann zu verzeichnen, wenn nur dieses eine schon lange zum Klassiker avancierte Buch von 1979 als Bezugsgröße wahrgenommen wird. Tatsächlich aber hat Luhmann seit dieser Zeit bis zu seinem Tode zahlreiche Schriften zum Erziehungssystem vorgelegt. Somit hat sich schleichend die Revision bereits vollzogen. Wer sich vor der Herausgabe des vorliegenden Werkes schon mit den erziehungssoziologischen Texten Luhmanns beschäftigte, wird jetzt keine überraschenden Befunde finden. Lediglich eine Akzentverschiebung hin zu einer systemtheoretischen Analyse der Unterrichtssituation wird durch das fragmentarische Kapitel schemenhaft und in Ansätzen erkennbar. Die meisten Überlegungen Luhmanns zum Erziehungssystem finden sich nicht nur – wie für ein Kapitel oben bereits angedeutet – in früheren Beiträgen der anfangs von Niklas Luhmann und Karl-Eberhard Schorr herausgegebenen Schriftenreihe "Fragen an die Pädagogik" aus den 1980er und 90er Jahre, sondern auch schon im vierten Band von Luhmanns "Soziologische Aufklärung" von 1987.

Die besondere Qualität der Arbeit ist darin zu sehen, dass systemtheoretische Aspekte zum Erziehungssystem, die bisher in die verschiedenen Schriften Luhmanns verstreut waren, kompiliert in einem Buch vorzufinden sind. Sobald die üblichen anfänglichen Leseschwierigkeiten bei systemtheoretischer Lektüre überwunden sind, spricht vieles für die Lektüre: z.B. Luhmanns Sinn für die Konzentration auf das Kontrollierbare. Es überzeugt vor allem die mehr oder weniger zwingende Kombinatorik eines geistigen Systems, nach der viele – in der Erziehungswissenschaft oft gar nicht oder nur lose miteinander verbundene – Elemente sich aufeinander beziehen lassen. Sind alle Stränge erst ge- und verknüpft, erhält der Leser - abgesehen von einem Kapitel - durch die schon erwähnte didaktische "Poetik" des vorliegenden Werks dann auch eine Vorstellung, worauf genau die Aufmerksamkeit sich verdichten soll: nämlich auf den distanzierten Blick des Beobachters auf das Erziehungssystem mit seinen Akteuren.
Andreas Hoffmann (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Hoffmann: Rezension von: Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhr. In: EWR 1 (2002), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.12.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/51829193.html