EWR 3 (2004), Nr. 4 (Juli/August 2004)

Meike Berg
Jüdische Schulen in Niedersachsen
Tradition - Emanzipation - Assimilation. Die Jacobson-Schule in Seesen (1801-1922). Die Samsonschule in Wolfenbüttel (1807-1928)
Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003
(287 Seiten; ISBN 3-412-05703-7; 29,90 EUR)
Jüdische Schulen in Niedersachsen Eine zentrale Persönlichkeit bei der Gründung der jüdischen Schulen, die Meike Berg in ihrer an der Universität Hildesheim entstandenen und nun veröffentlichten Dissertation untersucht, war Israel Jacobson. Für Berg war Jacobson in erster Linie ein "aufgeklärter Jude" (37). Als "typisches Kind seiner Zeit" (ebd.) habe er sich der Gedankenwelt der Aufklärung verpflichtet gefühlt und sei "von dem Gedanken einer neuen, auf den Schüler individuell ausgerichteten Erziehung" und daraus folgend von "einer Pädagogik, die die Jugend zur Nützlichkeit für den Staat heranbilden sollte", angetan gewesen. Diesen offensichtlichen Widerspruch - Erziehung zum Individuum versus Erziehung für den Staat - übergeht Berg stillschweigend, und schon hier sei angemerkt, dass die fehlende kritische Auseinandersetzung der Autorin mit den Ambivalenzen der Aufklärungspädagogik, die in zahlreichen Textpassagen erkennbar wird, ein deutliches Manko des Buches darstellt.

Seine erzieherischen Vorstellungen setzte Jacobson zielstrebig um. Meike Berg beschreibt folglich dessen Aktivitäten auf schulpolitischer Ebene, die, wie er selbst 1801 formulierte, darauf abzielten, "die Jugend der Juden auf dem Lande zu bessern sittlichen Menschen zu bilden und sie solchergestalt dem Staate, in dem sie wohnen, nützlicher zu machen" (38). Zu diesem Zweck gründete Jacobson 1801 in Seesen eine Freischule für jüdische Kinder aus mittellosen Verhältnissen und entwickelte diese konsequent zu einer Simultanschule, an der christliche Lehrer unterrichteten und die christliche Schüler aufnahm, weiter. Die Schule wuchs auch unter den Nachfolgern Jacobsons - langsam, aber stetig. Bis 1838 war sie als Elementarschule organisiert und wurde in den 37 Jahren seit ihrer Gründung von insgesamt 474 Schülern besucht, von denen ca. ein Drittel christlicher Konfession war. Mit der Weiterentwicklung zur Bürgerschule (1839) und schließlich zur Realschule (1870) stieg die Frequenz deutlich an und lag 1871 bei 155 Schülern, von denen 87 jüdischen Glaubens waren. Die voranschreitende Gleichstellung mit dem öffentlichen Schulwesen, die in der Berechtigung zur Verleihung des "Einjährigen" (1870) und der Unterstellung unter die staatliche Schulaufsicht (1886) ihr äußeres Zeichen fand, ließ die Schülerzahl weiter steigen und die jüdischen Schüler allmählich zur Minderheit werden: 1911 standen den 116 jüdischen 193 christliche Schüler gegenüber.[1]

In wesentlich begrenzterer Form öffnete sich die wenig später gegründete und im benachbarten Wolfenbüttel gelegene Samsonschule, die von der Autorin vergleichend untersucht wird, ebenfalls für das christliche Umfeld. Diese Schulgründung ging auf eine von Philipp Samson gegründete Talmud-Schule zurück und wurde in ihren Anfängen auch von Israel Jacobson beeinflusst. Hier zeigte man sich jedoch im Hinblick auf konfessionelle Gepflogenheiten traditionsbewusster als in Seesen. Zwar unterrichteten an der Samson-Schule auch zwei christliche Lehrer, die ersten christlichen Schüler fanden aber erst 1883 nach der Verleihung des Rechts, die Absolventen der Schule mit der Berechtigung zur Ableistung des einjährig-freiwilligen Militärdienstes zu entlassen, den Weg an die Anstalt. Allerdings erlangte die Schule auch erst zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Bedeutung, denn bis 1870 lag die Schülerzahl hier nie über 30, und erst nach der 1883 erfolgten Angleichung an die staatlichen Schulen wuchs die Frequenz auf bis zu 155 jüdische Schüler (1902), denen 6 christliche Schüler gegenüberstanden. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Schule ebenfalls zu einer Realschule entwickelt.

Meike Berg widmet sich einerseits der Geschichte beider Schulen und sichtete dazu ein breites Quellenmaterial, das in erster Linie aus zeitgenössischen Darstellungen, Schulakten und Schuljahresberichten besteht. Andererseits bemüht sie sich stets darum, die gesellschaftspolitischen Hintergründe der Zeit in Bezug auf die Region des damaligen Herzogtums Braunschweig in ihrer Darstellung zu berücksichtigen, da sie sich davon "wichtige Informationen zur Beziehung zwischen der jüdisch-deutschen Minorität und der christlichen Obrigkeit" erwartet (14). In diesem Zusammenhang achtet sie besonders auf staatliche Maßnahmen zur Förderung bzw. Behinderung der Entwicklung der beiden Schulen sowie auf etwaige antisemitische Tendenzen, die sich gegen die Schulen richteten (die sich jedoch kaum nachweisen lassen).

Mit dieser Arbeit möchte sie "einen Beitrag zur jüdischen Bildungsgeschichte im niedersächsischen Territorium speziell im 19. Jahrhundert" leisten (1). Wesentlich stärker steht jedoch die an anderer Stelle formulierte Zielsetzung im Vordergrund: eine Interpretation der Schulgeschichten "im Spannungsfeld zwischen religiöser Tradition, rechtlicher Emanzipation und gesellschaftlicher Assimilation" (19). Die diesem Vorhaben zugrunde liegende und immer wieder überdeutlich zum Ausdruck gebrachte These geht davon aus, dass beide Schulen - ganz im Sinne des Gründungsvaters Israel Jacobson - offen um eine Assimilation der jüdischen Minderheit an die sie umgebende christliche Kultur bemüht waren und somit wesentlich zur Emanzipation der jüdischen Bevölkerung beitrugen.

Damit hat sich Meike Berg eine anspruchsvolle Aufgabe gestellt, die sie durchaus erfüllt. Auch wenn sie in vielerlei Hinsicht äußerst unsicher argumentiert, was sich in der häufigen Verwendung von Begriffen wie "offenbar", "vermutlich", "aller Wahrscheinlichkeit nach", "möglicherweise", "es steht zu vermuten" niederschlägt, in ihren Formulierungen zuweilen einen recht eigentümlichen Stil erkennen lässt ("Der ehemals augenscheinlich nicht sonderlich wohlgesonnene Oesterreich...."; 59) und einen Hang zu Wiederholungen aufweist, werden die assimilatorischen Absichten zumindest der Jacobson-Schule klar herausgearbeitet. Dabei bleibt sie allerdings den Beweis für die Behauptung schuldig, dass beide Schulen "bestimmend und wegbereitend für die Entwicklung eines jüdischen Bildungswesens im gesamten deutschen Sprachraum" gewesen seien, was sich "allein dadurch" zeige, "dass beide Schulen regen Zulauf aus dem Ausland hatten" (15), eine erneut nicht weiter ausgeführte Behauptung.

Doch die erwähnten Kritikpunkte sind nicht das zentrale Problem der Arbeit. Dieses liegt darin, dass durch die allzu starke Konzentration auf die Frage nach Assimilation und Emanzipation die Gelegenheit verpasst wurde, andere weiterführende und ergänzende Fragen zu stellen. So wäre es für den Schulhistoriker durchaus interessant gewesen, wenn ein Blick auf die städtischen Schulen im Umfeld der untersuchten jüdischen Schulen geworfen worden wäre. Meike Berg deutet zwar mehrfach an, dass die Seesener Stadtschule keinen allzu guten Ruf genossen hat, während die Wolfenbütteler ‚Große Schule‘ durch ihr Niveau den Zulauf von christlichen Schülern an die Samsonschule verhinderte. Sie verfolgt diesen Gedanken aber nicht weiter und fragt nicht danach, inwiefern der Ehrgeiz der Schulleiter, die bessere Schule zu führen, die Öffnung der Jacobson-Schule motivierte, während der Konkurrenzdruck der Wolfenbütteler Schule eher eine Konzentration auf jüdische Traditionen hervorrief.

Auch wäre eine Untersuchung der christlichen Schülerschaft aufschlussreich gewesen. Was motivierte die Eltern in Seesen, wo man gewiss nicht weniger Vorurteile gegenüber der jüdischen Konfession hegte als in anderen Regionen, ihre Kinder auf eine jüdische Schule zu schicken? Die auf Seite 87 nur kurz erwähnte Tatsache, dass 1805 selbst der protestantische Pfarrer seinen Sohn zur jüdischen Schule schickte, bleibt nicht mehr als eine Randnotiz.

Zu guter Letzt hätte ein kritischer Blick auf die Kehrseite der Assimilationsbereitschaft der Arbeit ebenfalls gut getan, doch fehlt der Autorin dazu die kritische Distanz zum Untersuchungsgegenstand. Schon bald nach der Reichsgründung zeigten sich nämlich auch an der Jacobson-Schule die üblichen Deutschtümeleien, die dazu führten, dass hier wie an der Samsonschule und an allen deutschen Schulen im Umfeld des Ersten Weltkriegs glühender Patriotismus, Kriegsbegeisterung und Opferbereitschaft selbstverständlich waren. Antisemitische Tendenzen, die die Autorin für 1911 im Umfeld der Schule noch feststellt (209), taten diesen Entwicklungen keinen Abbruch, doch belässt es Meike Berg bei der lapidaren Feststellung, dass die "jüdische Schülerschaft der Jacobson-Schule ihr deutsches Nationalitätsbewusstsein" zeigte (211).

Da beide Schulen dem wirtschaftlichen Druck der Nachkriegszeit nicht standhalten konnten (die Jacobson-Schule wurde 1922 verstaatlicht, die Samsonschule 1928 geschlossen), entgingen sie einer Schließung durch die Nationalsozialisten. Da davon auszugehen ist, dass auch ehemalige Schüler beider Anstalten zu den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung gehört haben, ist es verständlich, dass die Autorin auch hierzu einen Bezug herstellen möchte. Die Art und Weise, wie sie dies tut, unterstreicht noch einmal das Fehlen einer kritischen Distanz und verdeutlicht die bereits angedeuteten sprachlichen Defizite sehr plastisch:

"Deutscher als jede deutsche Schule begingen beide jüdischen Institute nationale Feiern und zollten mit Menschen und Enthusiasmus ihrer Wahlheimat Tribut in allen Kriegen. Toleranter als ihr christliches Umfeld erstrebten sie die gesellschaftliche Assimilation. Rechtloser als jedes unterdrückte Volk ernteten sie als Dank ihre fast vollständige physische Vernichtung." (250)

So kann man einerseits zwar von einer verpassten Chance sprechen, doch bleibt es andererseits das Verdienst der Autorin, bislang kaum beachtetes Archivmaterial bearbeitet und dadurch die Geschichte zweier ungewöhnlicher Schulen beleuchtet zu haben. Damit ist sie zweifellos ihrem Vorhaben, "dem interessierten Leser neue Aspekte in der deutsch-jüdischen Geschichte [zu] eröffnen", gerecht geworden. Für weitere Forschungsarbeiten lassen sich zudem durch die Lektüre viele Anregungen finden, da besonders die ausführlicheren Zitate aus den Quellen sehr veranschaulichend wirken. Es bleibt zu wünschen, dass die Forschung diese Anregungen aufnimmt.

[1] Die statistischen Angaben wurden den Seiten 252-253 entnommen.
Rüdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rüdiger Loeffelmeier: Rezension von: Berg, Meike: Jüdische Schulen in Niedersachsen, Tradition - Emanzipation - Assimilation. Die Jacobson-Schule in Seesen (1801-1922). Die Samsonschule in Wolfenbüttel (1807-1928), Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/41205703.html