EWR 9 (2010), Nr. 6 (November/Dezember)

Elmar Anhalt (Hrsg.)
In welche Zukunft schaut die Pädagogik?
Herbarts Systemgedanke heute
Jena: IKS Garamond 2009
(175 S.; ISBN 978-3938-2038-35; 19,80 EUR)
In welche Zukunft schaut die Pädagogik? Die im Jahr 2001 gegründete Internationale Herbart-Gesellschaft hat es sich zum Ziel gesetzt, das wissenschaftliche Werk Johann Friedrich Herbarts in seiner Vielfalt zu pflegen und zu fördern. Im Rahmen regelmäßiger Tagungen, die im Turnus von zwei Jahren stattfinden, soll den Anschlussmöglichkeiten und Differenzen nachgegangen werden, die sich aus Herbarts Entwurf einer systematischen Pädagogik ergeben.

Der vorliegende Sammelband, herausgegeben von Elmar Anhalt, enthält Beiträge der 4. Tagung der Internationalen Herbart-Gesellschaft aus dem Jahr 2007. Im Zentrum der Tagung stand die Frage: „In welche Zukunft schaut die Pädagogik? Herbarts Systemgedanke heute“. In den Aufsätzen in- und ausländischer Referenten werden aktuelle Problemstellungen der Pädagogik mit Bezug auf das Werk Herbarts in ihren historischen Dimensionen behandelt und der Versuch unternommen, das Verhältnis von Erziehung und Bildung zu bestimmen. Die sieben Tagungsbeiträge werden durch einen Einleitungsbeitrag von Elmar Anhalt und durch zwei ältere bereits publizierte Aufsätze von Berthold Ebert ergänzt.

Die thematisch unterschiedlich angelegten Tagungsbeiträge lassen sich folgendermaßen systematisieren: Klaus Prange, Dietrich Benner und Elmar Anhalt beschäftigen sich in ihren Abhandlungen mit der Frage der Zeitstruktur von Erziehung. Erziehung, so der gemeinsame Tenor, lässt sich nicht einer externen zeitlichen Strukturierung unterordnen, sondern hat vielmehr eine „Eigenzeit“, die die Pädagogik zu berücksichtigen hat. Die Beiträge von Carlos Martens und Oleg Zajakin haben demgegenüber einen anderen thematischen Fokus. Sie zeigen die Rezeptionswege und die Bedeutung auf, die das pädagogische Werk Herbarts im belgischen bzw. russischen Ausland hinterlassen hat. Thomas Fuhr wiederum lotet im Anschluss an die Forderung Herbarts, dass sich die Pädagogik auf ihre „einheimischen Begriffe“ konzentrieren müsse, die Möglichkeiten einer genuin pädagogischen Lerntheorie aus.

Im Einleitungsbeitrag weist Elmar Anhalt darauf hin, dass eine „systematische pädagogische resp. erziehungswissenschaftliche Zeitforschung bis heute ein Desiderat darstellt“ (12). Während es in anderen Disziplinen eine differenzierte und systematische Auseinandersetzung mit dem Thema gebe, werde das Problem der Zeit in Pädagogik und Erziehungswissenschaft bislang kaum umfassend bearbeitet, sondern auf wenige Dimensionen verengt. Im Anschluss an diese Feststellung zeigt Anhalt unterschiedliche Forschungsperspektiven auf: So sei es in einem ersten Schritt von elementarer Bedeutung, die Zukunftsperspektive der Erziehung von der Zukunft der Pädagogik zu unterscheiden. Davon seien individualgeschichtliche Zeiterfahrungen sowie das Problem der selbst- und fremdreferentiellen Konstruktion von Zeiterfahrungen zu differenzieren. Ein weiterer Aspekt für ein Verständnis von Zeit seien letztendlich Zukunftserwartungen in Form von datengestützten Prognosen und Wahrscheinlichkeitsaussagen für Planungen des Bildungssystems.

Klaus Prange verweist in seinem Aufsatz auf die Tatsache, dass sich die Pädagogik zunehmend „als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Versorgung von Nicht-Pädagogen“ darstellt (34). Den Grund für diese Okkupation durch fachfremde Disziplinen sieht Prange darin, dass die Pädagogik insgesamt immer häufiger ziel- bzw. marktorientiert, aber nicht zweckorientiert ausgestaltet wird. Vor diesem Hintergrund erinnert er daran, dass Herbarts Systemgedanke zweck-, aber nicht zielorientiert gewesen ist. Den Zweck der Erziehung sieht Herbart in der Kultivierung der Bildsamkeit. Erziehung müsse den Zu-Erziehenden befähigen, ein gleichschwebendes und vielseitiges Interesse auszubilden, damit dieser in der Zukunft seine Ziele selbst zu wählen vermag. Unter Bezugnahme auf Herbarts Systemgedanke sieht Prange die Aufgabe der Allgemeinen Pädagogik darin, eine ständige Vergewisserung über die spezifische Eigenart des Prozesses des Erziehens zu realisieren, um so „feindliche Übernahmen“ (40) durch andere Disziplinen weitestgehend zu verhindern.

Der Beitrag von Thomas Fuhr hat eine analoge Stoßrichtung, wenn er die Pädagogik dazu auffordert, eine genuin pädagogische Lerntheorie auszuarbeiten, anstatt dieses Terrain kampflos der Psychologie zu überlassen. Im Anschluss zeigt Fuhr am Beispiel der Erwachsenenbildung die Potentiale einer pädagogischen Lerntheorie auf.

Elmar Anhalt reflektiert in seinem Aufsatz über „Zukunft als pädagogische Kategorie“. In systematischer Absicht unterscheidet er dabei zwischen unbestimmter und bestimmter Zukunft. Mit dem Begriff „unbestimmte Zukunft“ sollen dabei verschiedene Aspekte in den Blick genommen werden, wie bspw. die Grenze unseres Wissens, die Alternativität unserer Entscheidungen oder die Kontingenz der Welt. Mit der „bestimmten Zukunft“ thematisiert Anhalt hingegen den Entwurfscharakter unserer Vorstellungen von Zukunft. Aufgabenstellung der Erziehung sei das Problem der Transformation von unbestimmter in bestimmte Zukunft. Im Anschluss zeigt Anhalt auf, wie Herbart versucht hat, diese Problemstellung zu lösen.

Oleg Zajakin beleuchtet in seiner Abhandlung die Rezeption der Herbartschen Lehre in der postsowjetischen Pädagogik, sprich: in der Zeit nach dem Fall des kommunistischen Regimes. Während Herbart vor 1990 im Kontext marxistisch geprägter Rezeptionslinien als reaktionärer Pädagoge kritisiert wurde, seine Theorie der „Kinderregierung“ gleichzeitig allerdings Verwendung fand, um straforientierte Disziplinarmaßnahmen gegenüber Heranwachsenden zu legitimieren, setzte nach 1990 eine Phase ein, in der eine insgesamt positive Würdigung Herbarts zu registrieren ist und das pädagogische Potential seines Werks für die liberale Bürgergesellschaft ausgelotet wird. Dieser Wandel in der Bewertung des herbartschen Werks steht mit einem „Paradigmenwechsel“ (128) in der russischen Pädagogik in Zusammenhang, wonach das Primat der kollektiven Erziehung durch individualistische Erziehungs- und Bildungsvorstellungen abgelöst werden soll.

Auch Carlos Martens zeigt in seinen Ausführungen, dass die Pädagogik Herbarts anschlussfähig für unterschiedliche politische Konstellationen war und ist. Während die herbartsche Pädagogik in Deutschland im Kontext der restaurativen Verhältnisse nach 1848 einen enormen Bedeutungsaufschwung erfuhr, fand seine Lehre in Belgien zu einem Zeitpunkt Verbreitung, als die liberale Partei im Parlament die absolute Mehrheit erhielt. Unter Bezugnahme auf die herbartsche Pädagogik waren die Liberalen darauf fokussiert, die belgische Lehrerbildung zu reformieren und die Schule aus dem kirchlichen Abhängigkeitsverhältnis zu befreien.

Insgesamt zeigen die Tagungsbeiträge auf bemerkenswerte Weise, dass das Werk Herbarts auch heute noch vielfältige Anschlussmöglichkeiten für aktuelle Problemstellungen der Pädagogik liefert. Besonders das Thema der Zeitforschung bedarf in der Pädagogik einer intensiveren Bearbeitung, und die Beiträge zeigen gerade hier Perspektiven auf, um sich diesem Thema zu nähern. Zwei Kritikpunkte am Tagungsband der Internationalen Herbart-Gesellschaft sind allerdings vorzubringen:

In manchen Beiträgen überwiegt eine bisweilen idealistische Heldenverehrung Herbarts, während eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit seinem pädagogischen Werk eher in den Hintergrund gerät. Wenn Herbart als der unzweifelhaft „beste Pädagoge unter den Philosophen“ (144) bezeichnet oder die Behauptung geäußert wird, dass Herbart „seiner Zeit voraus“ (122) war, dann wird man den Verdacht nicht los, dass hier mehr der Versuch unternommen wird, einen zweifelsfrei wichtigen Pädagogen als ahistorischen Klassiker zu stilisieren, anstatt sich aus einer distanzierten Beobachterperspektive mit ihm auseinanderzusetzen.

Damit steht eine pauschale Negativbewertung des Herbartianismus, die sich bspw. in den Beiträgen von Zajakin, Martens und Ebert auffinden lässt, in einem engen Zusammenhang. Herbarts Schüler kommen nicht gut weg, werden sie doch für „ein starres Schema des Unterrichts in allen Fächern, allen Stunden und allen Lebensaltern“ (151) und eine formalistische Pervertierung (126) der unterrichtstheoretischen Vorgaben Herbarts verantwortlich gemacht. Dieses noch immer vorherrschende Meinungsbild gegenüber dem Herbartianismus entspricht allerdings nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand der pädagogischen Historiographie. Gerade in jüngster Zeit konnte in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen werden, dass eine Gleichsetzung des Herbartianismus mit einer rigiden und intellektualistischen Unterrichtstheorie eher auf spezifischen Definitionsleistungen der herbartianischen Gegner beruht, als dass dies dem Herbartianismus an sich angelastet werden kann. Die pädagogische Historiographie täte insgesamt gut daran, die lange Zeit vorherrschenden Vorurteile gegenüber dem Herbartianismus abzulegen und sie nicht mehr zu reproduzieren, sondern sich auf differenzierte Art und Weise mit den mannigfaltigen Beiträgen der Schüler Herbarts auseinanderzusetzen.

Abgesehen davon ist der Sammelband jedoch jedem Leser empfohlen, der an der Pädagogik Herbarts und ihrem Bezug zu aktuellen allgemeinpädagogischen Fragestellungen von Erziehung und Bildung interessiert ist.
Michael Schabdach (Michael Schabdach)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael Schabdach: Rezension von: Anhalt, Elmar (Hg.): In welche Zukunft schaut die Pädagogik?, Herbarts Systemgedanke heute. Jena: IKS Garamond 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/39382038.html