EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)

Johannes Bellmann / Thomas MĂŒller (Hrsg.)
Wissen, was wirkt
Kritik evidenzbasierter PĂ€dagogik
Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2011
(280 S.; ISBN 978-3-531-17688; 26,99 EUR)
Wissen, was wirkt Vor einigen Jahren hat Sieglinde Jornitz beobachtet, dass die erziehungswissenschaftliche Verwendung der Begriffe Evidenz und evidence-based zunehmend als „Kampfansage“ gegenĂŒber dem „Rest“ der Disziplin verstanden werden mĂŒsse. Die „anderen“, so der Vorwurf der evidenzbasierten Bildungsforschung, liefern keine stichhaltigen Forschungsergebnisse und bleiben in einem vorwissenschaftlichen Meinungsmilieu stecken. Jornitz‘ Beobachtung geht auf den Umstand zurĂŒck, dass der Begriff Evidenz nicht mehr allein ein wissenschaftstheoretisches und methodisches Thema bezeichnet, sondern als Signalwort fĂŒr „richtige“ Wissenschaft verwendet wird. Der Streit um Evidenz setzt nicht umstandslos den Positivismusstreit oder den Methodenstreit ĂŒber quantitative und qualitative Sozialforschung fort; er trĂ€gt vielmehr eine neue Facette in die Auseinandersetzung, weil er methodische Fragen mit der Bestimmung des VerhĂ€ltnisses von Erziehungswissenschaft und Politik verknĂŒpft. Evidence-informed policy research zielt auf eine Verwissenschaftlichung der Politik und auf eine Forschung, die an politischer Steuerung mitwirken soll. Es geht demnach nicht nur um unterschiedliche Auffassungen ĂŒber Epistemologie und Methoden, zur Debatte steht auch das SelbstverstĂ€ndnis von Erziehungswissenschaft und autonomer Forschung.

Eine Analyse der Evidenzdebatte ist fĂŒr die Disziplin deswegen notwendig und wichtig, und Johannes Bellmann und Thomas MĂŒller kommen dem nun mit ihrem Sammelband nach. In drei Abschnitten befragen Autoren (keine Autorinnen!) den Begriff Evidenz und die Auswirkungen der Evidenzdebatte auf das ProfessionsverstĂ€ndnis einerseits und auf das VerhĂ€ltnis von Bildungsforschung und Bildungspolitik andererseits. Dabei vermeiden sie der Intention nach eine Pauschalierung der Kritik und verweigern sich so einem Streit der VĂ€tergeneration, der durch die Weiterentwicklung neuerer Theorie- und Empirietraditionen ĂŒberholt scheint.

In ihrem einleitenden Beitrag unterscheiden die Herausgeber zwei Interpretationen evidenzbasierter PĂ€dagogik: Die erste Interpretation folgt dem SelbstverstĂ€ndnis evidenzbasierter PĂ€dagogik als einer Forschungstradition, die wissenschaftliches Wissen ĂŒber das, was wirkt, generiert. Die zweite Funktionsweise in der Rede ĂŒber Evidenz werde in der Erziehungswissenschaft dagegen oft zu wenig belichtet: Evidenzbasiertes Wissen wirke bereits ĂŒber seine öffentliche Darstellung und Kommunikation und nicht erst durch Intervention. Deswegen bleibe evidenzbasierte PĂ€dagogik „unterbestimmt, wenn man sie allein als Beitrag zur Verwissenschaftlichung der erziehungswissenschaftlichen Forschung oder des pĂ€dagogischen Wissens generell interpretiert“ (9). Die Wirkweise des hypertechnokratischen Steuerungsmodells beruhe nicht auf Indikatoren als Grundlage der Steuerung, sondern Indikatoren sind Steuerungselemente. „Akteure reagieren auf das Bild, das die Wissenschaft von ihnen zeichnet, und unterschiedliche Akteure versuchen aus dem ihnen angebotenen Wissen in unterschiedlicher Weise Kapital zu schlagen“ (10). Mit dieser Unterscheidung können die Autoren eine Trennlinie zwischen evidenzbasierter PĂ€dagogik und empirischer Bildungsforschung ziehen. WĂ€hrend empirische Bildungsforschung in der deutschsprachigen Tradition in verschiedenen wissenschaftskulturellen Kontexten beheimatet ist, gelten fĂŒr die evidenzbasierte PĂ€dagogik die Kuhnschen Merkmale eines Denkmusters, das sich durch prĂ€zise methodische Vorgaben und einen spezifischen Wissenstypus beschreiben lĂ€sst.

Die Kritik von Evidenz zielt auf die Analyse wechselseitiger Einflussnahmen dreier eindeutig unterscheidbarer Register: Wissenschaft, Politik, pĂ€dagogische Praxis. Erstens, wie beeinflusst Politik Wissenschaft? Wie wird universitĂ€re Forschung kolonialisiert oder durch den Aufbau privater und staatlicher Forschungseinrichtungen marginalisiert? Wissenschaftssteuerung durch Forschungspolitik ist ein Instrument der Einflussnahme von außen, aber auch von innen. Der Einfluss von Politik auf Wissenschaft ergĂ€nzt und verknĂŒpft sich mit innerwissenschaftlichen KĂ€mpfen um Hegemonie. Zweitens, Einflussnahme von Politik und Wissenschaft auf die pĂ€dagogische Praxis mit der Absicht, professionelles Handeln in eine Sozialtechnologie zu verwandeln, die unabhĂ€ngig vom Erfahrungswissen der Praktikerinnen und Praktiker realisiert werden kann. Drittens, die Einflussnahme von Wissenschaft auf Politik in Form von Politikberatung, Expertise und der Entwicklung von politischen Steuerungsinstrumenten mit dem Ziel der Verwissenschaftlichung von Politik. Auf diese Einflussnahmen werfen die Autoren des Sammelbandes einen bestimmten Blick: Es handelt sich um BeitrĂ€ge von Wissenschaftlern. Sie registrieren zum einen die politischen und ökonomischen Zumutungen an die Erziehungswissenschaft und sie unterziehen die eigene Disziplin einer Kritik ihres SelbstverstĂ€ndnisses, sie analysieren mithin die Zumutungen, die aus ihrem eigenen Feld kommen.

Dass Evidenz kein selbst-evidenter Begriff ist, darauf macht Hans Jörg SandkĂŒhler in seinem grundlegenden Beitrag „Kritik der Evidenz“ aufmerksam. Evidence-based Bildungsforschung, so muss man SandkĂŒhler lesen, ist wie jede wissenschaftliche Tradition in eine Wissenskultur mit geteilten Glaubensannahmen, Überzeugungen und SelbstverstĂ€ndlichkeiten des Meinens eingebettet und legt damit auf problematische Weise fest, was fĂŒr Wissen gehalten wird. Wissenskulturen erzeugen Ein- und Ausschlusseffekte, wie Kenneth R. Howe in seinem Buchbeitrag „Positivistische Dogmen, Rhetorik und die Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung“ zeigt.

Gert Biesta eröffnet mit seinem ersten Text „Warum ‚What works‘ nicht funktioniert: Evidenzbasierte pĂ€dagogische Praxis und das Demokratiedefizit der Bildungsforschung“ die Sektion ĂŒber das VerhĂ€ltnis von Bildungsforschung und pĂ€dagogischer Praxis. Der Ruf nach evidenzbasierter Praxis beinhalte die Forderung nach einer doppelten Transformation: Transformation der Bildungsforschung, damit sie nĂ€her an die Praxis heranrĂŒckt, und Transformation der pĂ€dagogischen Praxis, um sie nicht Lehrerinnen und Lehrern zu ĂŒberlassen. Walter Herzog, Hartmut Meyer-Wolters und Georg Lind zeigen in ihren BeitrĂ€gen auf unterschiedliche Weise, welche Probleme solche Forderungen aufwerfen und welche bestehenden, gut funktionierenden ForschungsansĂ€tze dadurch aus dem Blick geraten. Gert Biesta zufolge besteht der positive Effekt der Evidenzdiskussion zumindest darin, „dass einige BefĂŒrworter des evidenzbasierten Ansatzes in der PĂ€dagogik anfingen, in nuancierterer Weise ĂŒber die Verbindung zwischen Forschung, Politik und Praxis zu sprechen“ (98). Er kritisiert zwei Annahmen evidenzbasierter Bildungsforschung ĂŒber professionelles Handeln: Erstens liege pĂ€dagogischem Handeln kein KausalitĂ€tsmodell zugrunde, sondern sei ein symbolisch vermitteltes, interpretationsbedĂŒrftiges, im Ausgang offenes Interaktionsgeschehen. Zweitens lassen sich Ziele und Mittel nicht wie in einem technologischen Handlungsmodell trennen und dies sei auch nicht wĂŒnschenswert, denn bei Erziehung handle es sich „mehr um eine moralische Praxis als um eine technologische Unternehmung“ (103). Bildungsforschung habe zwar, so Biesta im Anschluss an Gerard de Fries, eine technische Aufgabe, die darin besteht, soziale Praxis durch Forschung aufzuklĂ€ren, aber darĂŒber hinaus habe sie eine kulturelle Funktion, indem sie ein anderes Bild von RealitĂ€t zeichnet und gegebene gesellschaftliche VerhĂ€ltnisse umdeutet (vgl. 113ff.).

Auf die kulturelle Funktion der Forschung greift auch Johannes Bellmann in seinem Beitrag „Jenseits von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie. Forschungsperspektiven Allgemeiner Erziehungswissenschaft“ zurĂŒck. Er stellt die GrundzĂŒge einer „theorieorientierten Bildungsforschung“ vor, mit der er Allgemeine Erziehungswissenschaft jenseits von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie positionieren möchte. Theorieorientierte Bildungsforschung habe den Anspruch, die fĂŒr die Beschreibung des pĂ€dagogischen Feldes verwendeten Kategorien und deren Wandel einer kritischen Analyse zu unterziehen. Es soll nicht so sehr um technologische Lösungen fĂŒr gegebene Probleme gehen, sondern um „eine (Re-)Problematisierung herkömmlicher oder neuer Beschreibungen des pĂ€dagogischen Feldes, die zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden“ (202). Theorieorientierte Bildungsforschung zielt damit erstens auf die Rekonstruktion praxisinhĂ€renter Normen – auch innerhalb der Bildungsforschung. Zweitens mĂŒsse sie praxisformierende Effekte des wissenschaftlichen Wissens systematisch in ihre Analyse einbeziehen und nicht als Nebenfolgen kleinreden. Damit komme ihr bei der Untersuchung der RekursivitĂ€t der Forschung die Aufgabe zu, ĂŒber die Beziehungen von Wissen und Macht aufzuklĂ€ren. Schließlich mĂŒsse theorieorientierte Bildungsforschung als systematisch-konstruktive Theoriebildung verstanden werden, die darauf abzielt, ein „Formalobjekt“ (207) der Erziehungswissenschaft zu konstituieren. Damit gehe immer auch der Versuch einer Neubeschreibung des Gegenstands einher.

In der zweiten Sektion wird evidenzbasierte Bildungsforschung in BeitrĂ€gen von Edwin Keiner, Thomas MĂŒller und Florian Waldow, Roland Reichenbach und wiederum von Gert Biesta im Hinblick auf Bildungspolitik analysiert. Keiners international vergleichende und historische Perspektive verortet den Diskurs um Evidenz in der Erziehungswissenschaft. Er zeigt, dass die Evidenzdebatte unterschiedliche internationale politische, ökonomische und wissenschaftliche Entwicklungen miteinander verknĂŒpft: Neue Akteure – wie die OECD – steuern Forschung und Forschungspolitik und verzahnen Wissenschaft, Politik und Ökonomie. Zweitens gibt es eine autonome Forschung an UniversitĂ€ten, die nach ihren eigenen Spielregeln, nationalen Traditionen und Wissenschaftskulturen operiert. Man kann vor diesem Hintergrund die Evidenzdebatte zum einen als eine Neubestimmung des VerhĂ€ltnisses von Wissenschaft und Politik lesen und zum anderen als Auseinandersetzung um „wissenschaftskulturellen Konvergenzdruck“ (230) interpretieren. UnaufgeklĂ€rt bleiben in der Debatte Annahmen ĂŒber die Logik oder Eigenlogik des Erziehungssystems, das Gegenstand der Forschung ist. Hier setzt abschließend Biestas Kritik an. Wenn man davon ausgeht, dass das Erziehungssystem ein „offenes, rekursives und semiotisches System“ (270) ist, dann solle man die Frage, was wirkt, Fragen der Gewissheit und der Ungewissheit nicht in erster Linie epistemologisch deuten, denn es gehe um eine „praxeologische Frage, die das Wesen menschlicher Interaktion und menschlicher Praxis betrifft“ (274). Anders als Lernen sei Erziehung eine zweckhafte Praxis, das heißt nicht nur an Zwecken orientiert, sondern durch sie konstituiert. Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung sind selbst Teil dieser Welt. Sie wirken an Interpretationen und Bedeutungsproduktionen mit, sie verĂ€ndern die Welt nach ihren Regeln und liefern zugleich Resultate der umgestalteten Welt. In solchen Operationen erkennt Biesta ein Demokratiedefizit, das er auch der evidenzbasierten PĂ€dagogik attestiert, weil sie kein „empirisch informiertes VerstĂ€ndnis der Rolle, die Erkenntnis und Forschung in der pĂ€dagogischen Praxis spielen“ (277), hat.

„Wissen, was wirkt“ von Johannes Bellmann und Thomas MĂŒller liefert profunde BeitrĂ€ge zu einer Kritik der Evidenz und sie eröffnen der Erziehungswissenschaft wichtige neue und wieder neu zu bestimmende Forschungsperspektiven: Wenn eine knowledge-based economy die Grundlage der Ökonomie wird und zunehmend den Bildungssektor erobert, werden in Wissenspolitik und Wissensökonomie auch erziehungswissenschaftliche Themen an Bedeutung gewinnen. Welches Wissen produzieren wir (vor dem Hintergrund welchen Wissensbegriffs) und durch welche Regeln wird die Wissensproduktion und -allokation bestimmt? Diese Fragen verknĂŒpfen sich mit Bildung und Lernen und sind deswegen im wissenschaftlichen claiming besonders begehrt. Ungeachtet aller anthropologischen und philosophischen Erkenntnisse ĂŒber Bildung, Erziehung und Lernen setzt sich auch in der Erziehungswissenschaft eine auf das Individuum zentrierte Lernpsychologie durch und liefert die theoretische Rechtfertigung fĂŒr einen enggefĂŒhrten Kompetenzbegriff. Dem stehen zwei Einsichten gegenĂŒber, auf die dieser Band verweist und die Elemente eines Formalobjekts ‚Erziehungswissenschaft‘ bilden könnten: Konfigurationen bilden die analytischen Grundlagen fĂŒr Erziehung. Sie mĂŒsste als ein offenes, rekursives, symbolisch vermitteltes, relationales Interaktionsgeschehen gedacht werden. Zweitens ist fĂŒr das VerstĂ€ndnis von Bildung die Analyse des Zusammenhangs von Bildung, Staat und Gesellschaft zentral. Erziehungswissenschaft ist eine reflexiv verfahrende Gesellschaftswissenschaft, die Konfigurationen von Politik, Wissenschaft und pĂ€dagogischer Praxis untersucht und dabei ihren eigenen Akteursstatus nicht aus den Augen verliert.
Edgar Forster (Fribourg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Edgar Forster: Rezension von: Bellmann, Johannes / MĂŒller, Thomas (Hg.): Wissen, was wirkt, Kritik evidenzbasierter PĂ€dagogik. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3531184678-1.html