EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)

Olaf-Axel Burow (Hrsg.)
Schule digital – wie geht das?
Wie die digitale Revolution uns und die Schule verändert
Weinheim: Beltz 2019
(192 S.; ISBN 978-3407631312; 24,95 EUR)
Schule digital – wie geht das? „Schule digital – wie geht das?“ – diese Frage mussten sich ad hoc viele Schulen im Frühjahr 2020 stellen. So könnte es wohl doch möglich sein, dass so etwas wie eine kleine Revolution gab, auf die Burow im Titel hinweist.

In dem Sammelband geht es darum, wie die Digitalisierung – die vor der Corona-Krise sicherlich einen anderen Stellenwert im schulischen Diskurs hatte – Schule und Unterricht verändern könnte und nach Ansicht einiger Autor/innen auch sollte. Um diese deutlich zu machen, ist das Buch in drei Abschnitte unterteilt: Im Teil Grundlegende Perspektiven geht es darum, den Diskurs um Digitalisierung in der Schule zu entfalten, während im zweiten Teil Berichte aus dem Silicon Valley diese Facetten mit zwei Reiseberichten an Schulen eben dorthin ergänzen. Im dritten Teil wird der Blick dann nach Deutschland gewendet auf Schulen, die sich auf den Weg gemacht haben, also Digitalisierung in verschiedenen Formen in den Schulalltag integriert haben.

Basis für das gesamte Buch ist der Artikel von Olaf-Axel Burow „Wie die digitale Revolution uns und die Schule verändert“. Der Autor und Herausgeber des Buches beschreibt aktuelle Entwicklungen der Durchdringung des Alltags mit digitalen Medien und deren Herausforderungen (nicht nur) für die Schule. Im Rahmen dessen ruft er sieben Revolutionen aus, die die aktuelle Veränderungsnotwendigkeit von Schule - so seine These - illustrieren: Die Pädagogische, die Schul- und die Unterrichtsrevolution, die Organisations-, Kreativitäts- und Glücksrevolution und zu guter Letzt die Nachhaltigkeitsrevolution. Diese Revolutionen führt er dann in einer Vision zusammen, in der Lehrer/innen und Schüler/innen Future Designer werden, ein Anspruch also, welcher der Schule mit der Idee der „Befähigung zur eingreifenden Zukunftsgestaltung“ (55) nochmals eine neue Aufgabe verleiht.

Dem Artikel folgt unter dem Titel „„Onlife“ Partizipation für alle“ ein Plädoyer für eine inklusiv-digitale Bildung von Christian Filk. Hier wird der „konzeptionell-programmatische Ansatz einer „Onlife“-Partizipation für alle Menschen postuliert“ (61). Filk rekurriert hier auf Floridis [1] Diagnose, dass digitale Medien und analoges Leben nicht mehr streng getrennt sind, sondern in einer Netzwerkgesellschaft eine Kooexistenz führen. Ausgehend davon zeichnet er die notwendigen Implikationen für die Schule nach: So bedarf es u.a. einem Mentalitätswandel in der Gestaltung der Schule, um einer „technizistische(n) oder ökonomische(n) Vereinnahmung der Nutzerinnen und Nutzer per Mausklick“ (63) zu widersprechen. Im Fokus steht für ihn die pluralistische Gesellschaft, die in der Schule aber nur durch die strukturelle Koppelung von inklusiver und digitaler Schulentwicklung vorbereitet werden kann. Dabei liefert er aber nicht nur eine Vision, sondern „gleichsam erste konkretisierende Wegmarken von Umsetzungsperspektiven von der Sensibilisierung und Qualifizierung für Digitalisierung und Inklusion über den Einsatz und Entwicklung geeigneter digitaler Lernmedien und -umgebungen (....) bis hin zu inklusiv-digitaler Bildung als Unterrichts- bzw. Schulentwicklung sowie -kultur“ (74). Damit leistet Christian Filk einen Beitrag dazu, die gemeinsamen Verbindungslinien in beiden für die Schule herausfordernden Aufgaben konkret werden zu lassen.

Leicht anders gelagert ist der folgende Artikel von Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt. Unter dem Titel „Gestalten statt Verhindern – die Chancen der digitalen Bildungsrevolution“ nehmen sie vor allem die Individualisierung in den Blick, die in ihrer Perspektive durch den Technologieeinsatz in der Schule gelingen kann. Ihre These lautet, dass Lehrer/innen mehr Zeit für das Wesentliche gewinnen, wenn Technik in den Dienst der Pädagogik gestellt werde. Basierend auf Beispielen aus US-amerikanischen Schulen zeichnen sie ein Bild der automatisierten Personalisierung, in der aufgrund von Online-Tests nach jedem Schulalltag der Zentralcomputer das perfekte Curriculum für den nächsten Tag berechne. Lehrer/innen werden zu Lernbegleiter/innen, die mehr Zeit zum Austausch mit Schüler/innen haben. Sie kommen zum Schluss, dass Deutschland in diesem Feld Anschluss verliert und fordern neben digitalkompetenten Lehrer/innen auch Mindeststandards für lernförderliche IT-Infrastruktur und deren Rechtsrahmen.
Dieser Forderung schlieĂźen sich Thesen von Arnd Gottschalk an, in denen er das bisher gesagte in einer Art ZwischenresĂĽmee zusammenbringt.

Bardo Herzig blickt schließlich hinter das Interface digitaler Medien und stellt „die in digitalen Medien implementierten programmierbaren Modelle“ (96) ins Zentrum, da er darin vor allem Bedingungen von selbstbestimmter Teilhabe und Orientierung sieht. Er plädiert dafür, Lernen über Medien nicht auf informatische Konzepte wie Programmieren oder Algorithmen zu verkürzen, sondern Lernumgebungen so zu gestalten, „dass sie dazu auffordern und ermöglichen, die in digitalen Medien implementierten Modelle zu explorieren und zu reflektieren oder selbst den Prozess der Modellierung zu durchlaufen und eigene Gestaltungen in programmierbare Modelle umzusetzen und zu implementieren“ (96). Einem praxisnahen Beispiel folgt die Auseinandersetzung mit Oberflächen und Unterseiten von Medien in Form von Zeichen, Signalen und Software. Aufgrund der Prägung unseres Alltags durch Software plädiert er aus medienpädagogischer Perspektive für die Schaffung von Lerngelegenheiten, Kindern und Jugendlichen diese „Baustoffe“ anhand von programmierbaren Modellen in digitalen Medien näher zu bringen. Denn ganz im Sinne der strukturalen Medienbildungstheorie nach Jörissen und Marotzki [2] folgert er: „die Transparenz strukturell bedingter Funktionen von digitalen Medien ist Voraussetzung für einen selbstbestimmten Umgang mit ihnen“ (104).

Martin Fugmann wiederum eröffnet mit seinem Beitrag den zweiten Teil des Buches. Er berichtet aus sieben (Privat)Schulen im Silicon Valley und deren Integration digitaler Medien. Als Reisebericht geschrieben vermittelt der Beitrag ein Gefühl dafür, wie in anderen Ländern mit Digitalisierung in Schule umgegangen wird und welche Schulentwicklungsperspektiven sich darin zeigen. Auffällig ist z.B. die starke Steuerung über Algorithmen und Analytics Software mit den darin eingeschriebenen Perspektiven von Instruktion, Messung und Zielerreichung mit mehr oder weniger weniger Spielraum der Lehrer/innen. Und die Steuerung betrifft aber nicht nur die Schüler/innen, sondern auch die Schulen, die beispielsweise durch Fortbildungsressourcen belohnt wird, an besonderen Programmen der Ed Tech Industrie teilzunehmen.

Damit liegt der Schritt zum nächsten Artikel nicht weit, in dem Otto Seydel unter diesen Bedingungen nach der Abschaffung der Schule fragt und pädagogische Konsequenzen der digitalen Revolution nachzeichnet. Während der Corona-Pandemie liest man diesen Artikel nochmals anders, wenn er z.B. darauf aufmerksam macht, dass Homeschooling in Deutschland faktisch verboten sei: „Denn angesichts der enormen Spaltungstendenzen und Fliehkräfte unsere Gesellschaft hat die staatliche Pflichtschule eine nicht zu ersetzende gesellschaftliche Integrationsfunktion. Der Pausenhof ist ein eminent „politischer“ Platz.“ (135). Daher sind die Konsequenzen, die er fordert, aktueller denn je: Lernen in angemessenen Räumen mit einer guten technische Ausstattung sowie einer lernförderliche Möblierung. Am wichtigsten ist ihm aber die Balance zwischen Technologie und Beschleunigung auf der einen und persönlichem Kontakt sowie systematischer Verlangsamung auf der anderen Seite.

Es folgen Beiträge mit unterschiedlichen Praxisperspektiven: Jakob Chammon plädiert unter Rückgriff auf Erfahrungen der Deutsch-Skandinavischen Gemeinschaftsschule dafür, Neues auszuprobieren und Fehler zu machen – auch das liest man nach den Schul-Digitalisierungsexperimenten der vergangenen Monate neu. Johannes Zylka berichtet von der erfolgreichen Implementation von Tablet Computern, Maike Schubert von den Lernräumen der Freiherr-Vom-Stein-Schule in Neumünster und Michael Pallesche liefert einen Praxisbericht aus der Ernst-Reuter Schule in Karlsruhe. Damit schließt das Buch mit unterschiedlichen Schulkonzepten, die einen Einblick zulassen, wie digitale Medien deren Schulentwicklung prägt – in Form von Lessons Learned sicherlich für alle Schulentwickler/innen ein wertvoller Fundus.

Wir alle haben in den letzten Monaten Schulen erlebt, die entweder die eigene Perspektive auf Digitalisierung weiter ausgebaut oder sich auf den Weg in diese Richtung gemacht haben. Für beide Typen von Schulen ist das Buch sicherlich ein guter (Reflexions-)Impuls. Denn es zeigt in der Verbindung von theoretischen, konzeptionellen, visionären und schulentwicklungsbezogenen Beiträgen sowohl die Breite der Themen als Umsetzungsmöglichkeiten. Während die Visionsartikel fokussieren, wie sich Schule unter Bedingungen der Digitalität neu erfinden könnte, liefern die Berichte aus den Schulen (inter)nationale Einblicke in Schulpraxis. Was jedoch das Buch in der Zusammenschau der Beiträge deutlich zeigt, ist die Limitation von Technik. In vielen Bereichen geht es nur vordergründig um die Frage der Digitalisierung von Schule und Unterricht, sondern es stehen die Grundfeste von Schule zur Disposition, die diffiziler sind als „Massenbeschulung“ auf der einen und Individualisierung auf der anderen Seite. Ob dabei gleich von einer Revolution gesprochen werden muss, sollte an dieser Stelle den Lesenden überlassen werden, da zur geschichtswissenschaftlichen Definition von Revolutionen zwingend ja auch ein Machtwechsel gehört. Und spätestens hier wäre zu fragen: Ist dieser Ziel? Und wer sind die Träger/innen dieser (Graswurzel-)Revolution? Die Lehrer/innen, Schüler/innen, Eltern oder Schulleitungen? Und wie geht man in der schnell ausgerufenen „Revolution“ mit „Abweichler/innen“ um, also den Personen, die die neuen Verhältnisse nicht mittragen wollen/können? Mit diesen Fragen im Kopf regt das Buch dann dazu an, hierüber nicht nur unter Coronaperspektive weiter zu denken.

[1] Floridi, Luciano (Ed.): The Onlife Manifesto. Being Human in a Hyperconnected Era. Heidelberg/ Berlin: Springer 2015.
[2] Jörissen, Benjamin / Marotzki, Winfried: Medienbildung. Heilbrunn: Klinkhardt 2009.
Mandy Schiefner-Rohs (Kaiserslautern)
Zur Zitierweise der Rezension:
Mandy Schiefner-Rohs: Rezension von: Burow, Olaf-Axel (Hg.): Schule digital – wie geht das?, Wie die digitale Revolution uns und die Schule verändert. Weinheim: Beltz 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3407631312.html