EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)

Tanja Betz/ Stefanie Bischoff-Pabst/ Nicoletta Eunicke/ Britta Menzel
Kinder zwischen Chancen und Barrieren
Zum VerhÀltnis von Schule und Familie aus der Sicht von Kindern: ihre Perspektiven, ihre Positionen Forschungsbericht 2;
228 S.; DOI 10.11586/2019063; kostenlos
GĂŒtersloh: Bertelsmann Stiftung 2019
Kinder zwischen Chancen und Barrieren Zum Wohle von Kindern wird im wissenschaftlichen wie im schulpraktischen Diskurs wiederkehrend eine engere Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule angemahnt. Da mag es erstaunen, dass die Perspektive von Kindern auf eine solche Zusammenarbeit bislang nur selten in den Fokus erziehungswissenschaftlicher Untersuchungen geraten ist. Die 2019 veröffentlichte Studie „Kinder zwischen Chancen und Barrieren. Zum VerhĂ€ltnis von Schule und Familie aus der Sicht von Kindern: ihre Perspektiven, ihre Positionen“ von Tanja Betz, Stefanie Bischoff-Pabst, Nicoletta Eunicke und Britta Menzel stellt diesbezĂŒglich eine lobenswerte Ausnahme dar.

Genau genommen handelt es sich bei dieser Veröffentlichung um den zweiten Teil eines Forschungsberichts zu der unter Leitung von Tanja Betz durchgefĂŒhrten und von der Bertelsmann Stiftung geförderten Studie „Kinder zwischen Chancen und Barrieren“. Ein erster Berichtsteil derselben Studie ist ebenfalls 2019 unter dem Titel „Kinder zwischen Chancen und Barrieren. Zusammenarbeit zwischen Kita und Familie: Perspektiven und Herausforderungen“ erschienen. Im Gegensatz zum ersten Berichtsteil, der auf den Bereich der frĂŒhkindlichen Bildung fokussiert, beschĂ€ftigt sich der zweite Teil mit dem VerhĂ€ltnis von Erwachsenen und Kindern im Primarschulbereich. Obwohl inhaltlich aufeinander bezogen, lassen sich beide Teile des Forschungsberichts also unabhĂ€ngig voneinander lesen – und rezensieren.

Die vorliegende Rezension ist ausschließlich dem zweiten Teil des Forschungsberichts gewidmet, der nach einer kurzen thematischen EinfĂŒhrung mit einer sachkundigen Skizze des Forschungsstandes beginnt. Darin wird unter anderem deutlich, dass aktuelle Diskurse um Parent Involvement und Partnership (zu) stark erwachsenenzentriert und eher programmatisch als empirisch orientiert gefĂŒhrt werden. Diese Feststellung grundiert die Identifikation von sechs Forschungsfragen, an deren Beantwortung sich die Studie im Folgenden abarbeitet: Die Sichtweisen von Kindern auf den Kontakt zwischen Familie und Schule im Allgemeinen (1. Forschungsfrage) sowie auf Elternabende und Lehrer-SchĂŒler-ElterngesprĂ€che (LSE-GesprĂ€che) im Besonderen (2. Forschungsfrage). Die Frage nach den individuellen Erfahrungen, die Kinder mit Kontaktformen zwischen Elternhaus und Schule machen (3. Forschungsfrage) sowie die von den Kindern wahrgenommenen Selbst- und Fremdpositionierungen (4. Forschungsfrage). Und schließlich: Die Fragen nach den kollektiven Erfahrungen, die Kinder mit Kontaktformen zwischen Elternhaus und Schule machen (5. Forschungsfrage) und nach möglichen Unterschieden zwischen den jeweiligen Handlungsorientierungen (z.B. auf Grund von Geschlecht und sozialer Position) (6. Forschungsfrage). In Abstimmung auf diesen heterogenen Fragekatalog wird sodann das methodische Vorgehen der Studie expliziert, das zwischen Dokumentarischer Methode und qualitativer Inhaltsanalyse changiert. Die Autorinnen haben insgesamt 13 Gruppendiskussionen mit SchĂŒler*innen des 3. und 4. Schuljahres an fĂŒnf kontrastiv ausgewĂ€hlten Grundschulen durchgefĂŒhrt. 42 Kinder, die an diesen Gruppendiskussionen teilnahmen, wurden anschließend einzeln interviewt. Flankierend wurden die LehrkrĂ€fte der Kinder sowie Schulleitungen, Schulsozialarbeiter*innen und eine MĂŒttergruppe befragt, sodass die Studie auf einer breiten Materialbasis fußt.

Die Auswertung dieses Materials erfolgt in vier AnlĂ€ufen. Die ersten beiden AnlĂ€ufe sind inhaltsanalytisch orientiert. Ausgehend von den Einzelinterviews mit Kindern wird zunĂ€chst deren Perspektive auf Kontaktformen zwischen Familien und Grundschulen untersucht. Kinder – so die Bilanz – nehmen Elternabende ganz unterschiedlich wahr, was nicht zuletzt mit der fallspezifisch unterschiedlichen Distribution von Wissen ĂŒber und an diese(n) Abende(n) zusammenhĂ€ngt. Im Unterschied dazu werden LSE-GesprĂ€che von den befragten Kindern eher als „begrenzte schulische (Leistungs-)Situation“ (S. 78) beschrieben. Leider gehört dieser Auswertungspart zu den schwĂ€cheren Teilen der Studie. So unterschlĂ€gt z.B. die dezidierte Feststellung, dass der Elternabend von den befragten Kindern „als positiv gerahmter Erfahrungsraum“ (S. 59) wahrgenommen wird, die im Text ebenfalls genannten kritischeren Stimmen, die – auch wenn sie nicht so zahlreich sein mögen – im Sinne eines methodisch bedingten Interesses an der Kontrastierung von FĂ€llen eine genauere Hervorhebung verdient hĂ€tten. Es mag dem Format eines Berichts geschuldet sein, dass man sich als Leser*in hier bisweilen mehr analytische TiefenschĂ€rfe wĂŒnscht. Am Material liegt es nicht. Die abgedruckten InterviewauszĂŒge sind durchweg interessant gewĂ€hlt. Lesenswert bleibt dieser Teil der Studie also trotzdem.

Im zweiten, ebenfalls inhaltsanalytisch angelegten Auswertungskapitel wird genauer nach den Selbstpositionierungen der Kinder gefragt. Dabei rĂŒckt insbesondere das Wissen der Kinder, dass sie der Gegenstand des GesprĂ€chs zwischen ihren Eltern und den LehrkrĂ€ften sind, in den Fokus. Im ausgewerteten Material unterscheiden die Autorinnen zwischen 11 unterschiedlichen Selbstpositionierungen von bemerkenswerter Varianz. Neben Kindern, die ihre Position als machtlos und ausgeschlossen beschreiben und anderen, die Informationsgewinne schĂ€tzen oder sich gegenĂŒber den GesprĂ€chsinhalten gleichgĂŒltig verhalten, ist insbesondere die kindliche Selbstpositionierung als „Gatekeeper“ (S. 93f.) hervorzuheben. An dieser Positionierung kann aufgezeigt werden, inwiefern Kinder mitunter bewusst und strategisch Einfluss auf den Informationsfluss zwischen Elternhaus und Schule nehmen.

Das dritte Auswertungskapitel zielt auf die Rekonstruktion kollektiver Handlungsorientierungen der SchĂŒler*innen mithilfe der Dokumentarischen Methode. Es handelt sich nicht nur um das umfangreichste Kapitel des Berichts, sondern zugleich auch um das inhaltliche KernstĂŒck der Untersuchung. SorgfĂ€ltig wird das Problem einer „Differenzerfahrung“ von SchĂŒler*innen herausgearbeitet – nĂ€mlich „als Kind(er) in die Gestaltung des VerhĂ€ltnisses von Familie und Grundschule eingebunden zu sein“ (S. 111). Es geht also darum, inwiefern sich Kinder zu dem sie betreffenden VerhĂ€ltnis von Familie und Grundschule unterschiedlich positionieren. Sinngenetisch wird diesbezĂŒglich zwischen drei Typen der Ins-VerhĂ€ltnis-Setzung unterschieden: WĂ€hrend sich der Typ „Einbezug und Informiertsein“ an einer „Involvierung“ interessiert zeigt, prĂ€feriert der Typ „sich entziehen und Separation“ eine „Abgrenzung“ und der Typ „Ohnmacht und Akzeptanz“ passt sich an (ebd.). Dieser Befund ist bedeutsam, weil hier aufgezeigt werden kann, dass und inwiefern eine engere Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule aus der Perspektive von Kindern keinesfalls nur Zustimmung findet.

Das letzte Auswertungskapitel schließt direkt an das vorangegangene Kapitel an und beschĂ€ftigt sich mit der Soziogenese bzw. mit den konjunktiven ErfahrungsrĂ€umen der Kinder. Auch wenn diese Auswertung insgesamt gesehen wenig eindeutige Ergebnisse hervorbringt, so lenkt sie die Aufmerksamkeit doch zumindest auf den wichtigen Umstand, dass diejenigen SchĂŒler*innengruppen, die einer Involvierung am aufgeschlossensten gegenĂŒberstehen, tendenziell eher einem ressourcenstarken Milieu zugeordnet werden konnten.

Der Forschungsbericht mĂŒndet in dem PlĂ€doyer fĂŒr „ein reflexives und ungleichheitssensibles VerstĂ€ndnis von ‚Zusammenarbeit‘ zwischen Schule und Familie“ (S. 185), das die Differenz unterschiedlicher kindlicher Positionierungen zu dieser Zusammenarbeit mit reflektiert. Die Feststellung, dass „in der Gestaltung des VerhĂ€ltnisses zwischen Schule und Familie Erwachsene und Kinder keine Partner ‚auf Augenhöhe‘ sind“ (S. 187), fĂŒhrt zu der auch andernorts formulierten Kritik am normativen Konzept einer „Erziehungs- und Bildungspartnerschaft“ [1] [2], die mit der vorliegenden Studie eine wichtige empirische StĂŒtze erhĂ€lt.

Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass der Forschungsbericht gleich in mehrfacher Hinsicht wertvolle Anregungen fĂŒr den aktuellen Diskurs um das VerhĂ€ltnis von Elternhaus und Schule bereithĂ€lt. Kritisch ist lediglich anzumerken, dass sich die ÜbergĂ€nge zwischen den einzelnen Berichtsteilen trotz des ĂŒbersichtlich gestalteten und mit Cartoons des Wiener Karikaturisten Klaus Pitter aufgewerteten Layouts nicht allerorts ad hoc erschließen. So plausibilisiert der Bericht zwar die Relevanz des Forschungsgegenstandes und macht die Art und Weise des methodischen Vorgehens transparent – das eine wird mit dem anderen jedoch nur lose verbunden. Ferner wĂ€re es wĂŒnschenswert gewesen, die Auswertungsteile expliziter aufeinander zu beziehen (selbiges lĂ€sst sich bislang nur im Übergang vom dritten zum vierten Teil feststellen), um den Gewinn, der durch die Kombination unterschiedlicher Auswertungsmethoden bedingt wird, deutlicher zu akzentuieren.

Dem Versprechen, zu einem besseren VerstĂ€ndnis kindlicher Perspektiven auf das VerhĂ€ltnis von Elternhaus und Schule beizutragen, wird die Studie jedoch vollumfĂ€nglich gerecht. Die Erkenntnis, dass ein differenzierter Blick auf divergierende kindliche Interessen im Kontakt zwischen Familie und Grundschule notwendig ist, dass eine weitergehende Zusammenarbeit zwischen Familie und Grundschule nicht im Interesse eines jeden Kindes liegt und dass eine pauschal eingeforderte Zusammenarbeit Bildungsungleichheiten mitunter nicht nur nicht abbaut, sondern auch verstĂ€rken kann, setzt Impulse fĂŒr weitere Forschungsinitiativen.

[1] Betz, Tanja (2015): Das Ideal der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft. Kritische Fragen an eine verstĂ€rkte Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtungen, Grundschulen und Familien. GĂŒtersloh: Bertelsmann Stiftung. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_WB__Bildungs-_und_Erziehungspartnerschaft_2015.pdf
[2] Wischer, Beate/Katenbrink, Nora (2017): „Drum prĂŒfe auch, wer sich nur temporĂ€r bindet?“ Denkanstoß zum Konzept der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft. In: Friedrich Jahresheft XXXV – Eltern: S. 7–9.
Jens Oliver KrĂŒger (Koblenz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jens Oliver KrĂŒger: Rezension von: Betz, Tanja / Bischoff-Pabst, Stefanie / Eunicke, Nicoletta / Menzel, Britta: Kinder zwischen Chancen und Barrieren, Zum VerhĂ€ltnis von Schule und Familie aus der Sicht von Kindern: ihre Perspektiven, ihre Positionen. Forschungsbericht 2. GĂŒtersloh: Bertelsmann Stiftung 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/2019063.html